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APA/ROLAND SCHLAGER
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Soziologe: „Entschleunigung ist einzigartig“

Die Gesellschaft beschleunigt sich seit dem 19. Jahrhundert ständig ökonomisch und technologisch. Mit der Coronavirus-Krise aber tritt plötzlich die ganze Welt aufs Bremspedal. Auch wenn die derzeitige Entschleunigung nicht alle zu spüren bekommen, für den deutschen Soziologen Hartmut Rosa ist sie „ganz und gar einzigartig“.

Zugleich biete die Situation die Chance, „noch einmal anders mit sich, anderen und der Welt in Kontakt zu treten“, so Rosa in einem dpa-Interview. Der Direktor des Max-Weber-Kollegs an der Universität Erfurt hat sich sein ganzes Forscherleben lang mit der „Beschleunigung der Welt“ beschäftigt.

Solche Situationen wie aktuell sind eine Fundgrube für Soziologen. Wie fällt ihre Analyse aus?

Hartmut Rosa: Die aktuelle Lage ist historisch ohne Vergleich. Was mir besonders auffällt: Es kommt einem so vor, als hätte jemand von außen riesige Bremsen ans Hamsterrad gelegt. Seit 250 Jahren ist unsere Gesellschaft in einem Vorwärts- und Beschleunigungsmodus. Bisher gab es da nur partielle und kurzfristige Einschränkungen, etwa nach dem 11. September oder als durch den Vulkan Eyjafjallajökull in Island zeitweise der Flugverkehr eingestellt war. Wegen des Virus werden jetzt aber weite Teile des gesellschaftlichen Lebens angehalten. So eine rasende Entschleunigung ist ganz und gar einzigartig.

Porträtfoto von Hartmut Rosa
Suhrkamp Verlag

Hartmut Rosa (54) ist Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Universität Jena. Außerdem leitet er das Erfurter Max-Weber-Kolleg. Rosa ist vor allem bekannt für seine Studien zur Beschleunigung der Arbeits- und Lebenswelt. Zuletzt ist von ihm 2018 das Buch „Unverfügbarkeit“ erschienen.

Weil sich das Virus offensichtlich rasant ausbreitet und wir die Situation wieder in den Griff bekommen wollen?

Rosa: Die moderne Gesellschaft ist darauf geeicht, Dinge verfügbar zu machen, unter Kontrolle zu kriegen und zu halten. Das letzte Kapitel meines jüngsten Buches lautet „Die Rückkehr der Unverfügbarkeit als Monster“. Genau damit haben wir es im Moment zu tun. Da kriecht plötzlich etwas über die Welt, das in jeder Hinsicht unverfügbar ist: Wir sehen es nicht, wir haben es wissenschaftlich nicht unter Kontrolle, medizinisch nicht im Griff, bekommen es politisch nicht reguliert. Und da reagiert Gesellschaft so, wie ich es beschrieben habe: Mit einem panischen Versuch, Verfügbarkeit wiederherzustellen. Wir wollen die Kontrolle behalten. Und wir stellen gerade fest, dass wir dabei an Grenzen stoßen.

Was hat das aus Ihrer Sicht für Folgen?

Rosa: Dass wir die Bedrohung in Form des Virus nicht sehen, führt zu einer massiven Entfremdung, zu einem Misstrauen gegenüber der eigenen Wahrnehmung und gegenüber der Welt. Man weiß plötzlich nicht mehr, ob der Mensch, der gerade vorbeiläuft, vielleicht ein tödliches Virus in sich hat. Und man misstraut dem eigenen Körper: Was bedeutet dieses Kratzen im Hals? Was mich interessiert – ich nenne das eine Soziologie der Weltbeziehung – ist, wie wir auf uns selbst und auf die Welt bezogen sind. Was gerade passiert, ist die massive Untergrabung von Selbstwirksamkeitserfahrung und Vertrauen.

Letztlich begünstigt unser Lebensstil samt Globalisierung die Ausbreitung solcher Viren und Unwägbarkeiten des Lebens.

Rosa: Das ist definitiv so. Dass sich das Virus so ausbreiten kann, hängt damit zusammen, dass wir eine gewaltige globale Weltreichweite realisiert haben. Nun werden wir räumlich plötzlich auf unsere eigenen vier Wände zurückgeworfen. Der zeitliche Horizont ist auch massiv eingeschränkt, weil keiner weiß, was in drei oder vier Wochen ist. Das ist völlig unwägbar geworden. Das ändert die Weise unseres In-der-Welt-Seins. Daran müssen wir uns erst einmal gewöhnen.

Zugleich gibt es im Moment ermutigende Beispiele von Nachbarschaftshilfe. Entstehen gerade neue Formen sozialer Kontakte, obwohl wir unsere Sozialkontakte einschränken?

Rosa: Ich glaube, in dieser Super-Verlangsamung des Lebens liegt die Möglichkeit, noch einmal anders mit sich, anderen und der Welt in Kontakt zu treten. Ich nenne das Resonanzbeziehungen. Dabei geht es mir aber nicht nur um andere Menschen, sondern um die Art und Weise, wie wir uns auf das Leben, die Welt, auch die Objektwelt einlassen. Man kann alte Tagebücher oder Briefe hervorholen oder wie in dem von Ihnen erwähnten Beispiel mit Nachbarn noch einmal anders in Kontakt treten. Der entscheidende Punkt ist die Haltung, mit der wir das tun: Sie ist ergebnisoffen, es muss nichts Bestimmtes dabei herauskommen."