Leerer Wiener Westbahnhof während der Ausgangsbeschränkungen im März 2020
APA/ROLAND SCHLAGER
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Forscheralltag

Konzentration auf den Haupttext

Die derzeitige Situation zwingt auch Forscher zum Innehalten. Man konzentriert sich wieder mehr auf den Haupttext statt auf Fußnoten, meint der Historiker Dmitri Zakharine in einem Gastbeitrag. Vielleicht ermögliche die Pandemie auch einen Schritt in die richtige Richtung, in der Wirtschaft und für die Welt.

Bisher verbrachte man viel Zeit mit unnötigen Planungen: ein Termin in Deutschland, ein Termin in China, ein dritter in Russland. Mit der Schließung der Grenzen wird das eitle Element jeder Planung und die Unsinnigkeit der Mobilität ins Bewusstsein gehoben. Man merkt wieder, dass es eine Schnittstelle an der Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft gibt. Sie heißt Gegenwart. Man liest wieder Bücher, da die Bibliothek zu ist. Man schaut sich Filme an, da Kinos geschlossen sind. Man denkt an die Kollegen, da man von diesen nicht mehr erwartet wird. Man konzentriert sich mehr auf den Haupttext und weniger auf die Fußnoten, wenn man wissenschaftlich arbeitet.

Dmitri Zakharine
privat

Dmitri Zakharine ist derzeit Fellow am IFK (Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Kunstuni Linz). Er lehrt Geschichte an der Universität Freiburg und beschäftigt sich mit frühen Tonmedien und nonverbaler Kommunikation.

Gesundes Schrumpfen?

Die Wirtschaft schrumpft: Ist es nicht gerade gut so? Warum muss die Wirtschaft ständig wachsen?! Nur fünfhundert Familien regieren die Welt. Sie werden heute als einzige das Schwinden von Milliarden auf dem Konto merken. Dem Rest der Menschheit kommt die Möglichkeit tätig zu sein sowieso zunehmend abhanden. Vom Reichtum ganz zu schweigen.

Globale und global denkende Unternehmen kaufen das Gemüse aus der Türkei, Software aus den USA und die Haushaltstechnik aus China. Europäische Arbeiter gibt es sicherlich noch irgendwo, aber sicher nicht im eigenen Bekanntenkreis. Die europäischen Bauernhöfe entwickeln sich zu Museen unter freiem Himmel. Die europäischen Intellektuellen begründen die Zweckmäßigkeit bedingungsloser Grundeinkommen. Man bekommt Garantien, man wird entschädigt, wenn man auf die Kreativität und Arbeit verzichtet.

Erholung für die Welt?

Ist die Corona-Seuche nicht ein richtiger Schritt in die richtige Richtung? Macht sie nicht das möglich, was sich Millionen insgeheim wünschen? Wünschte sich die Natur – angeleitet und vertreten von der „Jungfrau“ Greta Thunberg – nicht etwa das Gleiche? Die Gewässer erholen sich von der Schwefelsäure. Die Regenwolken trennen sich von Abgasen. Die Wälder und Felder erholen sich von Autos und Einwegflaschen.

Infobox

Die durch das Coronavirus ausgelöste Krise verändert auch das Leben von Forscherinnen und Forschern. Wie, beschreiben einige von ihnen in einer science.ORF.at-Serie:

Kamen solche soziale Seuchen nicht schon zu allen Zeiten so passend, um unlösbare Aufgaben zu lösen? In den wachsenden Städten der Frühen Neuzeit gab es ebenfalls genug Probleme, als die entwurzelte Bevölkerung vom Land in die Metropolen zog. Da fand sich die Lösung als Apparatur der Selbstkontrolle. Sie assoziierte sich mit dem Namen des mythischen Hirten Syphilus, der sich unverschämt gegenüber den Göttern verhielt und von diesen mit dem pockenähnlichen Ausschlag bestraft wurde. Von nun an musste man aufpassen, eine neue Art von Existenz innerhalb von großen Netzwerken erlernen. Auch damals führte die Furcht vor Syphilis zum Einfrieren sozialer Kontakte, zur Vertreibung der Hebammen und Schließung der Gemeinschaftsbäder. Auch damals schob man die Schuld dem Nachbarn zu: was bei den Italienern „französische Krankheit“ war, hieß bei den Russen „polnische Krankheit“.

Das wiederholt sich heute und wird sich wiederholen, solange die Menschheit lebt. Eine andere Bezeichnung für Corona-Virus ist „Chinesisches Virus“. Corona bleibt indessen nur die Essenz unserer Träume, die Krönung unserer Phantasie. Deswegen heißt diese süße Krankheit Corona.