Leere Autobahn in Neuseeland im März 2020 mit Covid-Hinweisschild
AFP/MARTY MELVILLE
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Entschleunigung

Eine Vollbremsung für die Welt

Die exponentielle Ausbreitung des Coronavirus ähnelt der immer schneller werdenden Veränderung der Welt, meint Paul Sailer-Wlasits in einem Gastbeitrag. In der nun verordneten gesellschaftliche Vollbremsung ortet der Philosoph auch eine Chance zur Umkehr.

Jede Beschleunigung beginnt mit einer trügerisch-harmlosen ersten Bewegung. Exponentielle Geschwindigkeitszunahme hingegen überwindet alsbald das Trägheitsmoment des Gleichmaßes und führt in letzter Konsequenz zu einer immer unbeherrschbareren Beschleunigung. Wie beim viralen Wachstum liegt das exponentielle Beschleunigungsvermögen dem vorstellenden Denken weitaus ferner, als etwa lineare oder kubische Beschleunigung.

Zur Person

Paul Sailer-Wlasits ist Sprachphilosoph und Politikwissenschaftler, Er beschäftigt sich u.a. mit Sprachphilosophie, Diskursanalyse, Ästhetik und vorsokratischer Philosophie. Zuletzt erschienen (Februar 2020): „Uneigentlichkeit. Philosophische Besichtigungen zwischen Metapher, Zeugenschaft und Wahrsprechen. Ein Essay“

Paradigmenwechsel in der Kulturgeschichte zogen vielfach eine Zunahme von Geschwindigkeit nach sich: das Aufstehen der Philosophie verstärkte das gerichtete Denken und überwand damit den Mythos; alle der mittlerweile vier industriellen Revolutionen waren und sind Beschleuniger, mit positiven und negativen Folgewirkungen für das globale Zusammenleben der Menschen.

Märkte spiegeln Krise

Der Weg von den frühen Agrargesellschaften hin zur industriellen Herstellung von Gütern erstreckte sich über Jahrtausende. Der Sprung von letzterer zur Just-in-time-Fertigung und von dieser zu den Algorithmen des vollautomatischen Hochfrequenz-Tradings an elektronischen Börsen dauerte hingegen nur wenige Jahrzehnte.

Die sich zum Ende des 20. Jahrhunderts aufgrund von Wettbewerbs- und Investorendruck immer weiter beschleunigenden, dynamisierenden Kapitalmärkte beugten sich dem druckvoller werdenden short-termism. Innerhalb weniger Hundertstelsekunden werden heute komplexe Finanzprodukte global und über die Zeitzonen hinweg, gemäß der Algorithmen des high-frequency tradings, gekauft und verkauft. Einem Herzschlag der Finanzmärkte gleich, bilden die Börsen sogar die Wucht der Einschlagsenergie des Coronavirus fast in Echtzeit ab.

Börsenkurs (DAX) an der Wall Street bricht ein (19.3.2020)
AFP/JOHANNES EISELE
Börsenkurs (DAX) an der Wall Street bricht ein (19.3.2020)

Der zurzeit im Entstehen begriffene digitale Veränderungsprozess ist der erste in der menschlichen Kulturgeschichte, dessen Veränderungsrate der Geschwindigkeitszunahme selbst kontinuierlich ansteigt. Exponentielle Steigerungsraten waren in der Vergangenheit zumeist nur zeitlich begrenzte Begleitphänomene des Wandels. Die teils rasch ablaufenden Umwälzungen fielen alsbald, jedoch auf höherem Niveau, in evolutionäres Gleichmaß zurück. Die hohe digitale Veränderungsdynamik der Gegenwart scheint jedoch nie wieder in gemäßigtes Entwicklungstempo zurückzufinden. Umfassendste Anpassungsleistungen und immer vollständigere Selbstüberantwortung des Individuums an die Veränderungsprozesse drohen unentrinnbar zu werden.

Dadurch ändern sich mittel- und langfristig erneut zahlreiche gesellschaftliche und in letzter Konsequenz auch globale Machtverhältnisse. Der in Gang gesetzte digitale Veränderungsprozess ist mithin der erste Change-Prozess der Menschheitsgeschichte, der sich nicht einem übergeordneten Ziel annähert, sondern dessen exponentielle Steigerungsraten – ohne kulturelle Abstützung – selbst das Ziel sind.

Vierte industrielle Revolution

Die gegenwärtig anlaufende vierte industrielle Revolution – auf allgegenwärtige Verfügbarkeit von Information zusteuernd – entspricht aus der Perspektive der Veränderungsdynamik einer aktiv in Gang gesetzten Umformung globaler Machtstrukturen durch die Zunahme von Geschwindigkeit. Der ab dem Beginn des 21. Jahrhunderts nur noch als pseudo-verantwortungsvoll zu bezeichnende Umgang mit riesigen Datenmengen, mit strukturierten und unstrukturierten big data, mit autonom lernenden Systemen und deren globaler Vernetzung nahe Echtzeit, birgt abgesehen von seinen nützlichen, messbaren Resultaten auch erhebliche Gefahren.

Auf Ethik gründende Regelwerke für den Umgang mit der zunehmenden Entwicklungsgeschwindigkeit und deren Einfluss auf die Menschen existieren noch nicht. Denn vielfach werden die ersten Ansätze bereits im Entstehen selbst zu Opfern der sie umzingelnden exponentiellen Geschwindigkeitszuwächse. Der Eingriff in die Lebenswirklichkeit von Milliarden könnte auch kulturell weitreichende Auswirkungen zeitigen, sobald die ortsgebundene Narration nach und nach verblasst und durch eine globale Ereigniskette wie etwa jene der aktuellen Covid-19-Pandemie ausgetauscht und in der Unerbittlichkeit globaler timelines zermalmt wird.

Hereinbrechen hoher Geschwindigkeit

Wenn ungeordnete Bewegung und unvorhergesehene, bedrohliche Ereignisse mit ihrer kaum kontrollierbaren Geschwindigkeit auf zerbrechliche Systeme des Gleichgewichts und der Entwicklung treffen, bewirkt dieses Zusammenstoßen keine Fortsetzung evolutionärer Prozesse, sondern zieht disruptive, erratische Veränderungsprozesse nach sich: Chancen für einige, Katastrophen für viele.

Aus dem gewaltsamen Einbrechen von hoher Geschwindigkeit in bestehende Formen des Zusammenlebens folgt auch, dass niemals sämtliche Mitglieder einer Gesellschaft in ausreichendem Maße willens oder in der Lage sein werden, die im Zeitverlauf geforderten Anpassungsleistungen zu erbringen. Geschwindigkeitszunahme, einst untrügliches Zeichen individueller Freiheit, erfordert als exponentieller Prozess ab sofort strukturelle Angleichungen: drastische, radikale Gegenmaßnahmen und individuelle Vorkehrungen, so als müsste zunehmender globaler Zentrifugalkraft entgegengewirkt werden, als ob Leibniz’ Grundsatz, die Natur handle nicht sprunghaft, außer Kraft gesetzt wäre.

Sinusmilieus der Zukunft

Der niemals mehr versiegende digitale Neuheitenstrom mit seiner unaufhörlichen Verkürzung der Zeithorizonte macht auch und insbesondere vor sozialen Beziehungen nicht halt. Die Geschwindigkeitserhöhung „verkürzt“ Entfernungen, Ziele rücken näher, indem sich der zeitliche Abstand zu diesen verringert; doch selbst durch die völlige Beseitigung des Abstandes zum Ziel entsteht keine Nähe. Die Ferne als eine ihrem Wesen nach unörtliche Differenz bleibt unverändert bestehen, obwohl die Wegstrecke nachweislich verringert wurde.

Menschen (Umrisse) vor einem Facebook-Schild
AFP/KENZO TRIBOUILLARD
Digitale Nähe

Menschliche Nähe entsteht stets durch das Interpersonelle, niemals aufgrund von Abstandslosigkeit; daher ist die digitale Vernichtung der Distanz nur in unzureichendem Maße in der Lage, zwischenmenschliche Anteilnahme zu erhöhen. Uneigentlichkeit als Existenzform des dritten Jahrtausends wird sich im Unterschied zur kopernikanischen Wende nahezu unsichtbar, schleichend und unentrinnbar vollziehen. Spuren zu den Ursprüngen drohen in der digitalisierten Informationswelt verloren zu gehen, milliardenfach überschrieben und zu beliebigen Anfängen degradiert zu werden.

Die Last des Stillstands

Sobald in Ausnahmesituationen der Entzug äußerer Sinnesreize zunimmt und der Stillstand geradezu mit Händen gegriffen werden kann, steigert sich die Last des weitgehenden Abhandenseins von Leben auf erbarmungslose Weise zur Unerbittlichkeit. Symptome der Belastung, von Langeweile über Widerwillen bis zur Depression lassen die Gefahr des Überdrusses, des Nicht-Ertragenkönnens von Stillstand wachsen.

Doch dem Bestimmungsort der Ruhe haftet, neben aller Schwere der Monotonie, auch eine besondere Form von Schönheit an, wie etwa der Stille einer komponierten Pause in der Neuen Musik. Diese entspricht keinesfalls der Lautlosigkeit, sondern dem Zurückgeworfensein des Einzelnen auf sich selbst und auf den besonderen Klang sowie die Geräusche seiner jeweils eigenen Umgebung; wie einem freiwillig oder zwangsweise erfolgenden eigenen Rückzug, oder dem Schweigen zum Zweck kontemplativer Sammlung. Alle diese aktiv herbeigeführten Verzögerungen und Verringerungen sind phänomenologisch als Reduktion von Geschwindigkeit lesbar und kategorisierbar.

Verordnete Entschleunigung

Die zurzeit politisch verordnete gesamtgesellschaftliche Entschleunigung könnte – sieht man von der erheblichen Gefahr illiberale Tendenzen zu begünstigen ab – auch positive Langzeiteffekte nach sich ziehen. Bereits in der Vorstellung vom Danach der Krise, in einer wiedererlangten Ordnung der Welt nach der Instabilität, liegt mehr als nur allgemein formulierte Hoffnung. Es liegt darin ein besonderes Verweisen, das seinerseits auf ein Ziel, auf einen Zweck und einen Sinn deutet. Das Ende eines belastenden Zustandes kommt allmählich in Sicht und jene Argumente, welche die Krise stets als Chance für eine Wende bezeichnen, könnten die Oberhand behalten.

In einer unserer ältesten Prophetien, dem Buch Jesaja (Jes. 30, 15-16), findet sich eine gütige Aufforderung samt unmissverständlicher Warnung: „Durch Umkehr und durch Ruhe werdet ihr gerettet. In Stillsein und in Vertrauen ist eure Stärke.“ Diese Aufforderung beinhaltet drei Metaphern: Es gibt eine Chance, die Krise zu bewältigen: durch Umkehr.

Viele Menschen werden aufgrund ihres Innehaltens etwas von dieser Umkehr behalten und in ihre neue Welt des Danach hinüberretten können. Einige werden über mehr innere Stärke verfügen, sobald ihre Lebenswirklichkeit beginnt, sie erneut in die Rastlosigkeit des Digitalen hineinzureißen.

Vielleicht werden sie sich sogar ein Beispiel am Flaneur nehmen, jener schemenhaft-flüchtigen, die Metropolen Europas durchstreifenden Figur des 19. Jahrhunderts. Der Flaneur wusste stets, dass er die ihm vertraute Stadtlandschaft einst an die Zunahme von Geschwindigkeit und an die Versachlichung verlieren würde. In stetiger Auseinandersetzung mit dem Stillstand bog er elegant um eine Straßenecke und verschwand sogleich hinter der nächsten, nicht ohne die wachsende Banalität des urbanen Getriebes mit abgrundtiefer Verachtung zu strafen.