Bett einer Intensivstation
APA/HELMUT FOHRINGER
APA/HELMUT FOHRINGER
Gastbeitrag

Ethische Richtlinien sind Gebot der Stunde

Noch gibt es genug Intensivbetten. Aber auch in Österreich könnte das Gesundheitssystem an seine Grenzen stoßen. Deshalb braucht es ethische Leitlinien, die im Ernstfall bei der Entscheidung helfen, wer zuerst behandelt wird. Als Kriterien nennt der Bioethiker Ulrich Körtner Genesungsaussicht und Patientenwillen. Keine Rolle soll das Alter spielen.

Die Bilder aus Italien und Spanien lösen Entsetzen aus: Ärzte und Pflegekräfte am Rande der Erschöpfung, die ihre Patienten und Patientinnen nur noch mit Mühe versorgen können. Dazu völlig überlastete Intensivstationen, in denen es an Betten für die weit steigende Zahl an Coronavirus-Patienten mangelt. Militärkonvois, die Leichen abtransportieren, für die es in den örtlichen Krematorien keinen Platz mehr gibt. Sich selbst überlassene Bewohner und unversorgte Tote in Alters- und Pflegeheimen.

Porträtfoto Ulrich Körtner
Hans Hochstöger

Ulrich Körtner ist Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien.

Wer glaubt, dergleichen könne hierzulande nie passieren, irrt. Es mag strukturelle und hausgemachte Gründe geben, weshalb das Gesundheitssystem in Italien und Spanien sehr rasch an den Rand des Zusammenbruchs geraten ist. In Spanien wurde in den zurückliegenden Jahren im Gesundheitswesen stark gespart und privatisiert. Es fehlen Ärzte und Intensivbetten. Italien hat eigentlich eine gute Gesundheitsversorgung, jedenfalls im von der Coronavirus-Pandemie besonders stark betroffenen Norden, aber relativ wenige Intensivbetten.

Dass wir in Österreich eine vergleichsweise hohe Zahl an Krankenhausbetten haben, stellt sich jetzt als Vorteil heraus. In Zukunft wird die politische Forderung nach Abbau von Spitalsbetten vermutlich nicht mehr so laut wie noch vor einigen Monaten erhoben werden.

Grenze des Gesundheitswesens

Aber auch das österreichische Gesundheitswesen könnte rasch an seine Grenzen stoßen, wenn die Zahl der an Covid-19 schwer und lebensbedrohlich Erkrankten steigen sollte (siehe news.ORF.at). Im Katastrophenfall werden dann auch bei uns Ärzte entscheiden müssen, wer noch intensivmedizinisch behandelt werden soll und wer nicht, weil die Überlebenschancen zu gering sind. Man nennt diese Situation Triage.

Es reicht längst nicht mehr, die Bevölkerung darauf einzuschwören, alle Maßnahmen einzuhalten und zu unterstützen, die von der Regierung und den Behörden gesetzt worden sind, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen oder zumindest zu verlangsamen, bis Medikamente zur wirksamen Behandlung der Infektion und vielleicht in einem Jahr ein Impfstoff zur Verfügung stehen. Wir müssen auch für den Ernstfall gerüstet sein, dass die Spitäler an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen.

Politiker versuchen dieses Thema zu vermeiden, um nicht zusätzliche Ängste zu schüren. Medizinische Fachgesellschaften aber sorgen bereits für den Ernstfall vor. Das ist nicht nur höchst verantwortungsbewusst, sondern überfällig.

Intensivmedizinische Empfehlungen

Bereits am 17. März hat die Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) "Klinisch-ethische Empfehlungen für Beginn, Durchführung und Beendigung von Intensivtherapie bei COVID-19-PatientInnen“ publiziert. Am 20. März zog die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften nach. Am 25. März nun folgten sieben deutsche Fachgesellschaften unter Federführung der Deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), die in Verbindung mit der in Göttingen ansässigen Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) klinisch-ethische Empfehlungen für die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und Intensivmedizin im Kontext der Covid-19-Pandemie veröffentlicht haben. An diesem Papier wie an Beratungen, die auch hierzulande unter Hochdruck laufen, ist auch Stefan Dinges beteiligt, Wissenschaftler am Institut für Ethik und Recht in der Medizin an der Universität Wien und der MedUni Wien. Auf das DIVI-Dokument verweist auch der Deutsche Ethikrat, der am 27. März zum Problem der Triage Stellung genommen hat.

Pflegepersonal in Schutzkleidung schiebt Bett im COVID-19-Patienten
AFP/MATTHIAS RIETSCHEL
Wer wird im Ernstfall behandelt?

Es geht im Klartext um Priorisierung und Triage, wie wir sie aus der Katastrophenmedizin und im Kriegsfall kennen. Das auszusprechen heißt nicht, sich die Rhetorik des französischen Präsidenten Macron eigen zu machen, sein Land befinde sich im Krieg gegen das Virus. Und schon gar nicht rechtfertigt die Covid-19-Pandemie Bestrebungen wie die des ungarischen Premiers Viktor Orban, die Demokratie auszuhebeln und auf unbestimmte Zeit mit Notverordnungen zu regieren. Doch an Rationierungen und Triage kommt man im Krisenfall auch in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft möglicherweise nicht vorbei.

Aussichten und Patientenwille

Trotz bereits erfolgter Erhöhung der Kapazitäten ist es denkbar, dass auch in Deutschland und Österreich in kurzer Zeit nicht mehr für alle Patienten, die ihrer bedürften, ausreichend intensivmedizinische Ressourcen zur Verfügung stehen. Die Entscheidung, wer im Extremfall noch (weiter) behandelt werden soll und wer nicht, kann unter diesen Umständen keine Einzelfallentscheidung sein, sondern muss nach einem transparenten Kriterienkatalog getroffen werden. Orientieren sollte sich dieser am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht, aber auch, soweit bekannt, am Patientenwillen.

Wenn beispielsweise ein Patient intensivmedizinische Behandlung ablehnt, darf er nicht gegen seinen Willen behandelt werden. Wenn die Ressourcen auf den Intensivstationen nicht mehr ausreichen, wäre es auch unethisch, einen Patienten im schlechten Gesundheitszustand, auch wenn er das dringend wünscht, intensivmedizinisch zu behandeln, wenn dafür ein Patient mit weit besseren Überlebenschancen abgewiesen werden müsste. Der Deutsche Ethikrat verweist in diesem Zusammenhang auf den ethischen und rechtlichen Grundsatz „ultra posse nemo oligatur“ – „Über das Können hinaus wird niemand verpflichtet“. Zu einer unmöglichen Leistung besteht keine moralische Verpflichtung.

Zur Triage gehört aber auch, regelmäßig zu überprüfen, ob eine bereits eingeleitete intensivmedizinische Behandlung fortgesetzt werden soll oder nicht. Auch bei dieser Entscheidung dürfen allein die klinischen Erfolgsaussichten und der Patientenwille ausschlaggebend sein. Im Notfall kann das bedeuten, einen Patienten, der bereits intensivmedizinisch betreut wird, auf eine andere Station zu verlegen. Diese Form der Triage ist ethisch und rechtlich höchst umstritten. Es ist nicht auszuschließen, dass behandelnde Ärzte in Grenzsituationen eine Gewissensentscheidung treffen müssen. Daraus darf aber keine allgemeine ethische oder rechtliche Regel abgeleitet werden, die das unveräußerliche Grundrecht auf Leben untergraben würde.

Unzulässige Kriterien

In den deutschen Empfehlungen steht ein auch für Österreich entscheidender Satz: „Eine Priorisierung ist aufgrund des Gleichheitsgrundsatzes nicht vertretbar nur innerhalb der Gruppe der COVID-19-Erkrankten und nicht zulässig allein aufgrund des kalendarischen Alters oder aufgrund sozialer Kriterien.“ Im Klartext: Einerseits darf es keine Altersdiskriminierung geben. Andererseits werden auch im Katastrophenfall Intensivbetten für andere Patienten benötigt, zum Beispiel für Unfallopfer, Herzinfarkt- und Schlaganfallpatienten oder frisch Operierte nach einem schweren Eingriff. Auch wenn zusätzliche Bettenkapazitäten aufgebaut und durch Verschiebung von nicht dringenden OPs auf den Intensivstationen weitere Ressourcen geschaffen werden, können diese nicht alle nur für die Versorgung von Coronavirus-Patienten frei gehalten werden. Außerdem lässt sich das nötige Fachpersonal nicht kurzfristig nach Belieben aufstocken.

Es geht nicht nur um Umschichtungen innerhalb der einzelnen Spitäler. Man wird Lösungen finden müssen, wie Covid-19-Patienten oder andere Intensivpatienten spitalsübergreifend, vielleicht sogar bundesländerübergreifend dorthin verlegt werden können, wo noch Betten frei sind. Es ist aber auch klarzustellen, dass bei schweren Krankheitsverläufen nicht bloß die Alternative zwischen Intensivbett oder Palliativstation und Sterbebegleitung besteht. Es braucht auch Betten auf Normalstationen. Allerdings ist dafür Sorge zu tragen, dass es auch für die palliativmedizinische Versorgung einen Notfallplan gibt.

Die Österreichische Palliativgesellschaft hat dazu bereits einen „Palliative pandemic plan“ vorgelegt. Auch die Deutsche Palliativgeselllschaft hat Empfehlungen für die stationäre und ambulante Versorgung von Covid-19-Patienten veröffentlicht. Empfehlungen von Fachgesellschaften und Ethikräten zur Triage bleiben allerdings wirkungslos, wenn sie nicht in den Krankenanstalten für verbindlich erklärt werden. Hier sind nicht nur die einzelnen Spitäler gefordert, sondern auch die staatlichen, kommunalen und privaten Krankenhausträger.

Solidarität und Eigeninteresse

Was unter Fachleuten auch diskutiert wird: Um das Gesundheitssystem aufrechtzuerhalten, müssen unter Umständen im Katastrophenfall an Covid-19 erkrankte Ärzte und Pflegefachkräfte vordringlich behandelt werden, weil ihre Gesundung und ihr Überleben für die Versorgung der Gesamtbevölkerung entscheidend ist. Ihr Leben zu retten bedeutet, auch andere Leben zu retten. Zur Erinnerung: In Italien waren am 26. März bereits 6.205 Ärzte und Sanitäter mit dem Coronavirus infiziert. 29 Ärzte sind seit dem Beginn der Pandemie verstorben.

Hoffentlich wird nun auch dem Letzten klar, dass es längst nicht mehr nur darum geht, dass die Jungen die Alten oder Risikogruppen mit Vorerkrankungen schützen. Nicht nur kann auch bei jungen Menschen eine Coronavirus-Infektion einen schweren oder sogar tödlichen Verlauf nehmen. Jüngere Menschen könnten auch zu Opfern der Pandemie werden, wenn für sie nach einem schweren Unfall oder Herzinfarkt kein Intensivbett mehr frei ist. Darum handelt jeder, der jetzt die Anweisungen der Behörden strikt befolgt, nicht nur aus Solidarität und Humanität, sondern auch aus wohlverstandenem Eigeninteresse.