Eine Ärztin hält in einer Arztpraxis ein Stethoskop in den Händen.
APA/dpa-Zentralbild/Jens BŸttner
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Pandemie

Covid-19: Wo ist die Evidenz?

„Evidenzfiasko“, „Kakophonie“: In der medizinischen Fachgemeinde wird mit deftigem Vokabular über Maßnahmen in der Coronavirus-Krise diskutiert. Barbara Nußbaumer-Streit, Expertin für evidenzbasierte Medizin, nimmt zu den Streitpunkten Stellung – und fordert eine international abgestimmte Strategie.

science.ORF.at: Die österreichische Bundesregierung hat für Mittwoch eine Maskenpflicht in Supermärkten angekündigt. Zeitgerecht?

Medizinerin Barbara Nußbaumer-Streit
Donauuniversität Krems

Zur Person

Barbara Nußbaumer-Streit leitet das Zentrum Cochrane Österreich an der Donauuniversität Krems. Forschungsschwerpunkte: Evidenzbasierte Medizin und Methodenforschung.

Barbara Nußbaumer-Streit: Österreich ist eines der ersten europäischen Länder, das sich für eine Maskenpflicht ausspricht. Masken verhindern die Verbreitung von Tröpfchen, die zum Beispiel beim Husten oder Niesen entstehen. Sie schützen also Menschen in der näheren Umgebung. Aber man sollte nicht der Illusion erliegen, dass sie auch die Maskenträger schützen. Hier sehe ich eine gewisse Gefahr: Wenn Menschen durch das Tragen der Masken nachlässig werden und glauben, sie müssten keine Distanz einhalten oder nicht mehr Hände waschen – das sollte auf keinen Fall passieren.

Zur Wirksamkeit von Masken waren in den letzten Tagen sehr unterschiedliche Meinungen zu hören. Gibt es zu dieser Frage kein gesichertes Wissen?

Nußbaumer-Streit: Die Evidenz ist dünn. Die WHO empfiehlt das Tragen von Masken in erster Linie für Personen mit Symptomen sowie für Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten. Erst wenn das erreicht ist, sollte man sich über die Versorgung der restlichen Bevölkerung Gedanken machen. Grundsätzlich halte ich die Verwendung von Masken – zum Beispiel beim Einkaufen – für sinnvoll. Der Aufwand für den Einzelnen hält sich in Grenzen, man kann womöglich Infektionen verhindern – warum sollte man es also nicht machen?

Welche Art von Maske ist für uns normale Bürger im Alltag die empfehlenswerte?

Nußbaumer-Streit: Die Masken, von denen die Bundesregierung spricht, werden als Mund-Nasen-Schutz bezeichnet. Im Krankenhaus kommen meist andere Masken zum Einsatz, zum Beispiel sogenannte FFP-Masken.

Und dieser Mund-Nasen-Schutz ist in der Apotheke zu bekommen?

Nußbaumer-Streit: Wenn es keine Engpässe gibt, ja.

John Ioannidis von der Stanford University hat kürzlich in einem Artikel behauptet, die Medizin schlittere angesichts der Coronakrise in ein „Evidenzfiasko“. Was würden Sie ihm antworten?

Nußbaumer-Streit: „Evidenzfiasko“ ist ein sehr hartes Wort. Natürlich ist Nachbesserungsbedarf da. Man muss fairerweise sagen: Das Virus ist für uns alle neu, es gibt mittlerweile fast 2.000 Publikationen zu diesem Thema. „Evidenzbasiert“ heißt, dass man das beste verfügbare Wissen heranzieht – und das ist zum aktuellen Zeitpunkt eben noch nicht ideal. Wir werden vieles erst im Nachhinein besser beurteilen können. Wichtig wäre, dass wir schnell damit anfangen, zuverlässige Daten zu sammeln. Und zwar möglichst in allen Ländern: Damit wir die Maßnahmen und ihre Wirkungen zeitgerecht beobachten können.

Welches sind die drei wichtigsten offenen Fragen?

Nußbaumer-Streit: Erstens die „case fatality rate": Wie viele Menschen sterben tatsächlich an diesem Virus? Hier gibt es bisher sehr unterschiedliche Schätzungen. Das Ergebnis hängt auch davon ab, wie in den Ländern getestet wird und wie viele Infektionen dadurch gefunden werden. Zweitens wäre es gut zu wissen, wie viele Menschen infiziert sind. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich groß, aber sie ist sehr schwer abzuschätzen.

Wie groß könnte die Dunkelziffer sein?

Nußbaumer-Streit: Das ist schwer zu sagen. In Island wurde ein Querschnitt der Bevölkerung getestet, mit dem Ergebnis, dass etwa die Hälfte der Infizierten keine Symptome hatte. So ein Querschnitt-Test wäre in Österreich auch wichtig. Stichproben, wie sie jetzt die Regierung angekündigt hat, begrüße ich.

Und die dritte offene Frage?

Nußbaumer-Streit: Die Zahl jener Personen, die durch Infizierte angesteckt werden: Dieser Wert, R0 genannt, sollte unter eins sein, damit man eine Pandemie in den Griff bekommt. Wie hoch R0 tatsächlich ist, ist nach wie vor nicht ganz klar. Diese Zahlen braucht man, um zuverlässige Modellrechnungen für die Zukunft und die Wirksamkeit von Maßnahmen zu machen. Davon abgesehen stellen wir uns alle die Frage: Wie kommen wir aus der Krise wieder heraus? Um das beantworten zu können, müssten wir wissen, wie die eingesetzten Maßnahmen in den verschiedenen Ländern wirken. Und wann wir welche Maßnahmen wieder lockern könnten, ohne Gefahr zu laufen, dass die Infektionen wieder stark zunehmen.

Antoine Flahault von der Uni Genf hat kürzlich im Fachblatt „Lancet“ die WHO heftig kritisiert, er spricht von einer „Covid-19-Kakokphonie“. Wie beurteilen sie das Vorgehen der WHO?

Nußbaumer-Streit: Sie hat vielleicht nicht schnell genug reagiert, aber so wie Flahault würde ich das nicht sehen: Der Gesundheitsnotstand wurde Ende Jänner ausgerufen. Die Empfehlungen lauteten: Wir brauchen soziale Distanzierung, die Nachverfolgung von Kontakten mit Infizierten, die Isolation von Erkrankten. Auch die Forderung, dass viel mehr getestet werden soll, gibt es schon länger.

Was hätte die WHO besser machen können?

Nußbaumer-Streit: Sie hätte Covid-19 früher als sehr ernste Erkrankung anerkennen können. Zu Beginn stand ja noch die Hoffnung im Raum, dass man das noch eindämmen könnte.

Ein konzertiertes Vorgehen aller Länder gab es allerdings nicht.

Nußbaumer-Streit: Das wäre sehr von Vorteil gewesen, weil ein Virus natürlich keine Ländergrenzen kennt. Das sollten wir aus dieser Krise auf jeden Fall für die Zukunft mitnehmen. Wir brauchen ein weltweites Beobachtungs- und Kontrollsystem. Aktuell macht jedes Land, was es für richtig hält.

Wie lange wird es aus Ihrer Sicht dauern, bis es eine Impfung gibt?

Nußbaumer-Streit: Mindestens noch ein Jahr. Impfungen brauchen vor der Anwendung ausgiebige Tests, hier geht es letztlich darum, dass die Patienten keinem Risiko ausgesetzt werden. Was Medikamente betrifft, wird es hoffentlich schneller geben. Aktuell werden viele Studien durchgeführt, aber nachgewiesen wirksam ist bisher noch kein Medikament.