Tabletten liegen auf sechs Löffeln.
dpa/Matthias Hiekel
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Gastbeitrag

Industrie braucht „Pooling“ aller Kräfte

Die Pharmaindustrie ist derzeit besonders gefordert – auch in ethischer Sicht. Um das Bestbieterprinzip bei Medikamenten zu verhindern, braucht es Selbstkontrolle. Und die Politik muss Wettbewerbsregeln reformieren, so der Wirtschaftsethiker Markus Scholz in einem Gastkommentar.

Derzeit werden eigentlich gegen andere Erkrankungen entwickelte Wirkstoffe gegen die Symptome des Corona-Virus getestet und teilweise schon erfolgreich verwendet. Die vier erfolgversprechendsten Kandidaten sind das Malaria-Medikament Chloroquin, das eigentlich gegen Ebola entwickelte Virostatikum Remdesivir, sowie eine Kombination der Medikamente Lopinavir/Ritonavir, welche normalerweise zur Behandlung von HIV eingesetzt wird —ergänzt um einen Wirkstoff namens Beta-Interferon.

Markus Scholz, Stiftungsprofessor für Corporate Governance & Business Ethics an der Fachhochschule Wien der Wiener Wirtschaftskammer.
FHWien der WKW

Markus Scholz ist Stiftungsprofessor für Corporate Governance & Business Ethics an der Fachhochschule Wien der Wiener Wirtschaftskammer.

Alle Medikamente werden bereits zu Heilversuchen eingesetzt. Gleichzeitig beginnen große, von der Weltgesundheitsorganisation unter dem Titel „Solildarity“ und von Frankreich („Discovery“) koordinierte internationale Studien und Testverfahren in Krankenhäusern. Zusätzliche Hoffnungen werden auf das vom Schweizer Pharmariesen Roche entwickelte Rheumamedikament Tocilizumab gesetzt. Ein italienischer Arzt hatte mit dem Medikament gute Erfolge erzielt – eine groß angelegte Studie beginnt im April.

Medikamente könnten knapp werden

Die erhöhte Nachfrage nach diesen Medikamenten stellt Patienten und Pharmaunternehmen allerdings vor ein Problem: Es entsteht eine relative Knappheit. Ursächlich für dieses Problem ist einerseits die in den meisten Industrieländern vorherrschende Allokationspraxis für Medikamente. Vereinfacht ausgedrückt bestellt jedes Land zu einem festen Zeitpunkt die Menge an Medikamenten, die vorrausichtlich zur Versorgung von Patienten benötigt wird. Ein Nachschub darüber hinaus kann nur schwer realisiert werden, da auch Pharmaunternehmen ihren Produktions- und Logistikprozess entsprechend kalkulieren.

Durch die von der Corona-Pandemie ausgelöste erhöhte Nachfrage nach einigen Medikamenten, welche eigentlich einem anderen Zweck dienen sollten („Off Label Use“), ist die Nachfrage in einigen Bereichen momentan größer als das Angebot. Verschärft wird diese Knappheit zusätzlich durch die weltweit teilweise unterbrochenen Logistikketten.

Ein Schrank mit vielen Medikamenten
APA/DPA/DANIEL REINHARDT

Wie soll ein Unternehmen reagieren, wenn es damit konfrontiert wird, dass eines seiner Medikamente zwar unter Umständen die Symptome des Corona-Virus erheblich lindern könnte, die eigentlich vorgesehenen Empfänger, etwa Rheumapatienten, dann aber nicht mehr ausreichend versorgt werden können? Die Verteilung der Medikamente an privatwirtschaftlich verabredeten Lieferverträgen festzumachen, ist hier nur noch begrenzt hilfreich – es ist wohl kaum zu rechtfertigen, dass ein möglicherweise lebensrettendes Mittel Corona-Patienten auf dieser Grundlage vorenthalten wird.

Ö1 Corona-Podcast:

Einschätzungen zu möglichen Covid-19-Medikamenten und Erfahrungen aus der Klinik liefert der Mediziner Peter Kremsner im aktuellen Ö1 Corona-Podcast.

Noch schlimmer wäre es, wenn sich die Unternehmen dazu hinreißen ließen, etwaige Kapazitäten nach dem „Readiness and Willingness to Pay – Prinzip“, also nach dem Bestbieterprinzip, zu verkaufen. Dies wäre nicht nur aus ethischer Perspektive schwer begründbar, es würde die ohnehin schon angeschlagene Reputation der Pharmaindustrie als verlässlicher Partner erheblich schwächen.

Ein häufig vorgeschlagenes „Pooling“ der bestehenden Ressourcen und auch der Produktionskapazitäten innerhalb der Industrie ist unter den vorherrschenden rechtlichen Bedingungen ebenfalls problematisch – Kartellrechtswächter würden sofort aufschreien.

Bestbieterprinzip verhindern

Unter diesen Umständen trägt die Pharmaindustrie eine große ethische Verantwortung. Gleichzeitig benötigt sie dringend politische Unterstützung und Orientierung, damit sie dieser Verantwortung nachkommen kann. So muss ein privatwirtschaftlicher Markt, auf dem das Bestbieterprinzip für Corona relevante Off-Label-Produkte herrscht, dringend verhindert werden. Auf so einem Markt würden finanzielle Ressourcen andere Prinzipen, zum Beispiel die Bedürftigkeit einer Patientin, sofort aushebeln. So eine Situation zu verhindern liegt einerseits in der gesellschaftlichen Verantwortung der Pharmafirmen.

Andererseits muss ein solcher Markt ggf. auch seitens der Politik per se unterbunden werden – hier bedarf es einer klaren politischen Führung. Anders als in Österreich wurde in Frankreich aufgrund der drastisch steigenden Nachfrage die Off-Label-Verordnung von Hydroxychloroquin und der fixen Kombination von Ritonavir und Lopinavir im ambulanten Sektor per Ministerialdekret bereits verboten.

Regeln reformieren, um Kooperation zu ermöglichen

Außerdem müssen dringend Richtlinien zur Allokation der bestehenden Off-Label- und ebenso für die erwarteten, gezielt entwickelten Corona-Medikamente geschaffen werden. Die Pharmaunternehmen müssen sich als Experten an der Entwicklung dieser Richtlinien beteiligen, sie dürfen und können diese aber nicht alleine entwerfen. Zur Erinnerung: Pharmamanager sollen Unternehmen führen. Dazu zählt auch, dass sie Verantwortung für gesellschaftliche Themen übernehmen. Das heißt aber nicht, dass sie Experten in Allokationsfragen sind, noch bedeutet dies, dass sie dazu legitimiert sind, zu entscheiden, wer, wann und zu welchem Preis u.U. lebensrettende Medikamente erhalten soll.

Ö1 Sendungshinweis:

Über das Thema berichtet auch „Wissen Aktuell“ am 2.4. um 13.55 Uhr.

Zuletzt muss politisch auf europäischer Ebene dafür Sorge getragen werden, dass Pharmaunternehmen besser als bisher miteinander kooperieren können. Wettbewerbsrichtlinien, welche verhindern, dass Unternehmen während der Krise ihre Forschungs-, vor allem aber ihre Produktionskapazitäten „poolen“, um größere Mengen benötigter Medikamente zu erzeugen, müssen zielgerecht modifiziert werden. Diese Modifikation ist ein nicht zu unterschätzender Eingriff in die Wettbewerbsordnung und muss kritisch und vorsichtig geschehen. Vor allem dürfen diese neu geschaffenen Kooperationsmöglichkeiten nicht für opportunistische Zwecke der Pharmaindustrie ausgenutzt werden.

Krise als Reputationschance für Industrie

Grundsätzlich sei den Pharmaunternehmen nahegelegt, dass ihr gesellschaftlicher Auftrag primär darin besteht, Menschen mit ihren Produkten gesund zu halten und zu heilen. Jedenfalls liegt ihre Existenzberechtigung nicht allein in der Maximierung der Gewinne ihrer Aktionäre. Nachdem wir diese Krise überwunden haben, können wir evaluieren, ob die Pharmaindustrie ein verlässlicher Partner war. Wenn die Pharmaunternehmen sich jetzt verantwortlich verhalten, indem sie mit der Politik und untereinander transparent kooperieren, können sie ihre Reputation entscheidend und nachhaltig stärken.

Tatsächlich gibt es bereits erste Hinweise, dass Pharmaunternehmen die Herausforderungen und Chancen dieser Krise verstanden haben und entsprechend reagieren: In China verteilt der Pharmakonzern Roche das Medikament Tocilizumab – vor allem aber seinen Corona Schnell-Test – bereits millionenfach. Und zwar kostenlos. Dies wird man in China auch nach dem Ende Krise nicht vergessen haben.