Frau sitzt vor einem Computerbildschirm mit Statistiken
BullRun – stock.adobe.com
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„Wir müssen systematisch zu denken beginnen“

Der Wiener Physiker Karl Svozil hält die bisherigen Reaktionen auf die Corona-Epidemie für einen „Blindflug“. Seine Forderung: Es braucht mehr Transparenz – sowie eine Aufstellung möglicher Strategien für die Zeit nach Ostern.

Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in der afrikanischen Savanne und es raschelt hinter einem großen Busch: Was machen Sie? Die Strategie, welche sich evolutionspsychologisch durchgesetzt hat, ist: Sie rennen weg. Sie überlegen nicht lange, ob es ein Löwe, eine Gazelle oder der Wind sein könnte.

Physiker Karl Svozil
Karl Svozil

Über den Autor

Karl Svozil ist theoretischer Physiker an der Technischen Universität Wien. Er forscht im Bereich Quantenphysik und Computertheorie.

In einer solchen Lage ist es tatsächlich besser zu flüchten, dem Bauchgefühl nachgebend, quasi im Blindflug. Auch wenn es nur ein Windstoß war, der die Äste des Busches bewegt hat.

Aber „in the long run" haben die Menschen diesen Planeten erobert, weil sie eine zweite Strategie angewandt haben: die des langsamen, systematischen Nachdenkens, Theoretisierens und Handelns nach Plänen.

Mehr Daten, mehr Messungen

Wir sind bis jetzt vor dem Coronavirus (genauer SARS-CoV-2) „schnell denkend’’ davongelaufen; das heißt: Es hat uns vor sich hergetrieben. Unsere ersten Maßnahmen waren nicht evidenzbasiert. Aber, wie der Stanford-Professor John Ioannidis nicht müde wird zu betonen: Wir brauchen nun dringend mehr Daten, Evidenzen, Messungen.

Wir müssen innehalten und langsam zu denken beginnen. Wir müssen uns im Klaren werden, wie wir aus den unmittelbaren Maßnahmen, die wir gegen die Durchseuchung gesetzt haben, wieder aussteigen können; und insbesondere auch ob, wann und wie wir unsere wirtschaftlichen und sozialen Bereiche wieder hochfahren und reaktivieren – manchmal sogar reanimieren – können.

Die „Lockdown-Maßnahmen" verfolgen das Ziel, den Angriff des Coronavirus so lange zu strecken als es erforderlich ist, sodass unser Gesundheitssystem in der Lage ist, möglichst alle schwer an SARS-CoV-2 Erkrankten gut und ohne Schock zu absorbieren.

Zunächst einmal erscheint es fragwürdig, ob eine solche Streckung überhaupt Sinn macht. Denn in solchen Szenarien wird immer vorausgesetzt, dass die Verweildauer auf der Intensivstation kurz ist relativ zur Dauer der Erkrankungswelle. Denn wenn dem nicht so wäre, und wenn die Patienten über lange Zeiträume, wie von einigen Intensivmedizinern befürchtet, zwei bis drei Wochen Intensivbetten belegen und damit für neu hinzukommende Patienten blockieren würden, dann wäre durch eine zeitliche Streckung der Infektionsrate wenig gewonnen: Dann käme es zu einer kumulativen Erhöhung der Intensivfälle ohne zeitgerechte Genesung der schon früh Eingewiesenen. Das Elend in der Intensivversorgung, die man durch die zeitliche Streckung und die soziale Isolation zu vermeiden trachtete, würde sich nur langsamer aufbauen.

Wo ist der Ausweg?

Kommen wir auf die schlechte Datenlage und unseren gegenwärtigen Blindflug im Corona-Dschungel zurück: Wir laufen und laufen – aber wie lange schaffen wir das noch? Wie lange halten das die sozial isolierten Menschen „da draußen’’ noch aus? Wie lange noch können wir es verantworten, dass dabei hunderttausende Menschen ihre Arbeit verlieren und ganze Wirtschaftszweige – wie etwa die Touristik und das Gastgewerbe, aber zunehmend auch die Produktion und deren Zulieferer – systematisch ausgehungert werden, weil nichts mehr (außer staatlichen Überbrückungshilfen) in die Kasse kommt, aber dennoch die laufenden Kosten bezahlt werden müssen? Wie kommen wir aus dieser Situation wieder heraus?

Was wir brauchen

In jedem Fall wäre mehr Transparenz und ein offenerer Umgang mit Daten und alternativen Strategien vonnöten:

  • Die österreichische Bundesregierung sollte in dieser Phase alles daran setzen, um unseren epidemiologischen Blindflug zu beenden: Dazu zählen vor allem auch Antikörpertests, mit denen es möglich ist, einerseits die Gefährlichkeit und andererseits die Verbreitung des Coronavirus zu erkennen. Die bisherigen PCR-Test schaffen das in der Form, wie sie angewandt wurden, nicht. Und wir müssen auch überprüfen können, ob den Ankündigungen („Testen, testen, testen“) auch Taten folgen. Es ist klar, dass Reagenzien fehlen und nicht alles ideal ist. Die Menschen sollten diese Probleme und Tatsachen zugemutet werden.
  • Die Opportunitätskosten aller getroffenen Maßnahmen wären abzuschätzen und miteinander zu vergleichen: Es müsste den Menschen verständlich gemacht werden, dass es hier keine „Lösung’’ gibt – sondern nur das Durchschiffen zwischen verschiedenen Formen von Notlagen – gleich Odysseus zwischen Scylla und Charybdis. Was wir benötigen, sind transparente Kriterien: Sämtliche Maßnahmen wären miteinander zu vergleichen und es müsste klargestellt werden, welche auch langfristigen Konsequenzen diese nach sich zögen.

Ich glaube, dass nach so einem Vergleich es angemessen erschiene, gewisse soziale und wirtschaftliche Beschränkungen sehr kurzfristig (also nach Ostern) wieder zu lockern; immer unter der Voraussetzung, dass man die Zahl der Infektionen zu begrenzen trachtet, und bestmöglich Maßnahmen für jede Schwere der Infektion setzen könnte. Die nicht gefährdete Bevölkerung soll wieder arbeiten und möglichst alle Betriebe sollen wieder öffnen dürfen.