Menschen in Schutzanzügen zur Desinfektion in Wuhan
APA/AFP/STR
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Sozialwissenschaft

Pandemie als Realexperiment

Was wir gerade erleben, ähnelt einem riesigen Realexperiment mit ungewissem Ausgang, schreibt der Sozialwissenschaftler Franz Seifert in einem Gastbeitrag. Zwar war Expertise noch selten so wichtig für Entscheidungen, aber Wissen sei derzeit oft provisorisch. Wissenschaftliche Wahrheitssuche werde so Teil des politischen Alltags.

Mögest du in interessanten Zeiten leben! Als Sozialwissenschaftler, der sich mit Kontroversen um Risikotechnologien beschäftigt, zähle ich zu den ersten Opfern dieses (angeblichen) chinesischen Fluchs. Zur Sorge kommt für mich dieser Tage vor allem eines: Faszination. In Echtzeit Gesellschaften weltweit im Kampf gegen eine Pandemie zuzusehen, das ist bei aller Tragik auch verflucht interessant.

Franz Seifert
privat

Franz Seifert ist Biologe sowie Sozialwissenschaftler, der sich unter anderem mit Risikotechnologien und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft beschäftigt.

In meinem Forschungsfeld ist dieses Geschehen gewissermaßen der Ernstfall; die vielfach angekündigte, immer wieder abgesagte, eigentlich von kaum mehr jemandem ernsthaft erwartete Menschheitskatastrophe. Die Literatur in diesem Forschungsfeld bietet einen wahren Fundus an Fragestellungen und Ideen zur Interpretation dieser Krise.

Ich möchte hier drei herausgreifen. Diese Ideen sind schon recht alt, sie entstammen alle den Jahren nach der Tschernobyl-Katastrophe. In der gegenwärtigen Krise sind sie von neuer Aktualität, sagen uns aber auch einiges über den von uns herbeigesehnten Normalbetrieb unserer Gesellschaften.

Organisierte Unverantwortlichkeit

Wie konnte es nur soweit kommen? Die Frage stellen sich derzeit sicher viele. Der Soziologe Ulrich Beck, der in den 1980er Jahren mit dem Buch „Risikogesellschaft“ enorme Breitenwirkung erzielte, hätte darauf geantwortet: weil moderne Gesellschaften durch ein System „organisierter Unverantwortlichkeit“ (dem Untertitel seines zweiten Buches „Gegengifte“) routinemäßig Katastrophenrisiken produzieren.

Jetzt wissen wir, dass man viel früher und präventiv hätte reagieren müssen, mit international koordinierten, wirksamen Grenzschließungen und der Mobilisierung diagnostisch-medizinischer Infrastrukturen. Natürlich ist man im Nachhinein immer klüger, aber dass Pandemien möglich und nach den Beinahe-Ereignissen SARS, MERS und Ebola sogar wahrscheinlich sind, war allgemein bekannt. Internationale Agenturen und Expertennetzwerke beobachteten und warnten (genug?), Konzepte für den Notfall lagen bereit, und ostasiatische Nachbarländer exerzierten wirkungsvolle Sofortmaßnahmen vor.

Keine Naturkatastrophe

Warum nicht früher gehandelt wurde, warum sich erst vor aller Augen die Tragödie in Italien vollziehen musste, um Regierungen keine Wahl mehr zu lassen, weil nun jedes, überlasteten Intensivstationen geschuldete Opfer als Opfer ihres Zögerns in die Statistik eingehen würde, wird wohl noch ausgiebig analysiert werden. Vielleicht kann eine solche Analyse dazu beitragen, in Zukunft auch in ganz anderen Situationen schneller das Richtige zu tun, auch wenn das ein drastisches Durchbrechen des business as usual und die Zurückstellung mächtiger Wirtschaftsinteressen bedeutet.

Ein Mann mit Schutzmaske in einem Supermarkt
APA/dpa/Kay Nietfeld
Die „neue Normalität“

Beck wollte mit seiner durchaus polemischen Formulierung zum Ausdruck bringen, dass Katastrophen System haben und Folge menschlicher Entscheidungsprozesse sind, frei nach dem Motto: Alle sind beteiligt, aber keiner ist‘s gewesen. Zwar hatte er dabei die Risiken von Großtechnologien im Sinn, betonte aber, dass es Naturkatastrophen, für die niemand etwas kann, nicht mehr gibt. Zumindest für die schleichende Ausbreitung des Coronavirus vor den gegenwärtigen „Notbremsungen“ trifft das zu, da diese ja offenbar nicht allein Folge seiner hohen Infektiosität, sondern ebenso der frühen Fehleinschätzungen und Nicht-Entscheidungen ist.

Seuchenmanagement als Realexperiment

Wie sehr diese Entscheidungen von wissenschaftlicher Expertise abhängen, kann man heute täglich in den Medien verfolgen. Es ist die Stunde der Virologen und Epidemiologen, der klinischen Studien, Modellrechnungen und Big Data. Wissenschaft in ihrer ganzen Vielfalt und Verzwicktheit ist zur Überlebensfrage geworden und sie läuft auf Hochtouren.

Das bringt mich zum zweiten sozialwissenschaftlichen Konzept, das unter Titeln wie „Gesellschaft als Labor“ oder „Realexperiment“ gehandelt wird. Angewendet wird es in der Begleitforschung bei der Einführung technischer Innovationen (z.B. autonome Fahrzeuge) oder ökologischen Eingriffen (z.B. Giftmülldeponien). Dabei werden solche Prozesse unter dem Aspekt der Wissensgenerierung analysiert, also als Forschungs-, Erkenntnis- und Lernprozesse analog denen in Laborexperimenten.

Natürlich sind Realweltprozesse keine Laborexperimente. Die Bedingungen, unter denen sie ablaufen, sind weit komplexer und weniger kontrollierbar, die treibenden Akteure vielfältig und deren Interessen keine wissenschaftlichen. Und doch entstehen in ihnen Daten, Hypothesen und langfristig auch wissenschaftlich verwertbare Erkenntnisse. Diese stehen im Fokus des Konzepts.

Staatliche Steuerung „auf Sicht“

Weltweit nehmen Gesellschaften gerade an solchen Realexperimenten teil. Diese Gesellschaften sind mit einem mal wieder „national“ umrissen, denn Staaten haben sich in der Krise sofort als Handlungszentren etabliert, sonst so wichtige Europäische oder transnationale Strukturen sind in den Hintergrund getreten.

Leere Stephansplatz während der Ausgangsbeschränkungen im März 2020
APA/HELMUT FOHRINGER
Wo sonst Menschenmengen unterwegs sind, ist derzeit alles leergefegt (Wiener Stephansdom)

Regierungen suchen diese Gesellschaften durch die Krise zu steuern. Sie durchlaufen dabei intensive Lernprozesse, indem sie die eigene Bevölkerung steuern und analysieren, sowie von anderen Staaten, anderen Realexperimenten, lernen. Wenn Regierungen dabei betonen, „auf Sicht“ zu entscheiden, heißt das, dass sie dies unter Bedingungen von Unsicherheit und Nicht-Wissen tun. Auf Sicht fährt man, wenn man zu wenig sieht.

Und so vieles entzieht sich unserer Sicht: die Dunkelziffer der asymptomatischen Fälle, die der schon Immunisierten, die Übertragungswege, und vor allem die Zukunft. Wann flacht die Kurve ab? Wann kommt der Peak? Wann dürfen wir endlich wieder raus? Und wie geht’s dann weiter?

Leuchte uns den Weg

Der Horizont ist fern, markiert durch das Verfügbarwerden des Impfstoffes. Dann ist es vorbei. Der Weg dorthin aber ist lang, riskant und schmal. Unmöglich kann die Wirtschaft auf Dauer runtergefahren bleiben. Die sozialen Folgen wären ebenfalls katastrophal. Kommt sie wieder in Gang, dürfte das aber wiederum die Epidemie befeuern. Immer mit dem Ziel, die medizinische Versorgung nicht zu überfordern, müssen Maßnahmen also je nach Lage neu adjustiert werden, durch herumprobieren, lavieren, vorantasten.

Der Scheinwerfer auf diesem kaum planbaren, experimentellen Weg ist der Erkenntnisapparat der Wissenschaft. Forschungsgegenstand des Realexperiment-Konzepts ist eben dieser Scheinwerfer. Wohin leuchtet er? Wer lenkt ihn? Auf welche Ziele? Was erkennen wir in seinem Kegel? Welche Art von Licht strahlt er ab? Und was verbirgt sich in den Schatten, die es wirft?

Pragmatisches Wissen

Das Wissen, das im Realexperiment erzeugt wird, ist anderer Art als das der Grundlagenforschung. Es ist nicht an Disziplinen und Theorien, sondern an Bedarf und der Komplexität der aktuellen Problemlage orientiert, reicht von den molekularen Andockmechanismen von Viren, über die Ballistik ausgehusteter Tröpfchen bis zu den Bewegungsmustern von Ausflüglern in städtischen Raum.

Ferner ist dieses Wissen von geringerer Verlässlichkeit als das der Grundlagenforschung. Die epidemiologischen Daten sind Momentaufnahmen, die enorme Unsicherheiten einräumen, Modellrechnungen sind auf beschränkten Daten, Schätzungen und Annahmen beruhende Projektionen. Im Realexperiment erzeugtes Wissen ist provisorisch und unsicher.

Paradoxe Verschränkung

Obwohl also Wissenschaft der Politik eben nicht den Weg leuchten kann, macht der Problemdruck ihren Beitrag unverzichtbar. Einerseits als echte Entscheidungshilfe, andererseits aber auch als aufwändig kommunizierte Legitimation politischer Entscheidungen.

Angesichts der Abhängigkeit von der Folgebereitschaft der Bevölkerung sowie der ungeheuren Kosten und sozioökonomischen Risiken der Maßnahmen wird der auf der Politik lastende Legitimationsdruck mit der Dauer der Krise zunehmen. Die Politik braucht die Wissenschaft, um die Richtigkeit ihrer Entscheidungen zu belegen.

Das führt zum dritten Konzept, der vom Wissenschaftssoziologen Peter Weingart ausgeführten paradoxen Verschränkung von Politik und Wissenschaft: Einerseits „verwissenschaftlicht“ die Politik, indem sie Entscheidungen mit wissenschaftlicher Autorität untermauert, andererseits „politisiert“ das wiederum die Wissenschaft, deren Wahrheitssuche ins Kreuzfeuer der politischen Auseinandersetzung gerät.

Lehren kommen später

Das wäre zumindest die Voraussage: die innerwissenschaftlichen Kontroverse um Pandemie-relevante Forschung müssten mit Dauer der Maßnahmen zunehmen. Gegenstimmen müssten laut, Experten zunehmend von anderen Experten angezweifelt werden. Wie wird dieser innerwissenschaftliche Konflikt ausgetragen? Produktiv oder steril? Wir werden sehen.

Ich habe anhand der Krise drei sozialwissenschaftliche Konzepte vorgestellt. Es sei noch gesagt, dass die dabei skizzierten sozialen Mechanismen auch im Normalbetrieb gültig sind. Risiken werden weiterhin systemisch und ohne identifizierbare Verantwortlichkeiten produziert (z.B. Luftqualität, Straßenverkehr) und bleiben so gewissermaßen unsichtbar.

Unsere Gesellschaften sind auch im Normalbetrieb Experimentallabore, etwa bei der Einführung neuer Technologien. Und Politik und entscheidungsrelevante Wissenschaft stehen stets in einem paradoxen Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit und Auf- und Abwertung. Auch wenn es einem derzeit schwer fällt zu glauben – Gesellschaften können aus Krisen lernen. Die Sozialwissenschaften können ihnen dabei durch Forschung, Analyse und Reflexion helfen.