Grenzübergang nach Bayern, Polizeikontrollen
APA/dpa/Sven Hoppe
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Forscheralltag

Der Arbeitsplatz hinter der Grenze

Globale Ver- und Entflechtungen sind die Forschungsthemen von Roland Wenzlhuemer. Wie beides unser Leben prägt, bekommt der Historiker momentan eindrucksvoll vor Augen geführt. Auch persönlich: Zwischen seinem Arbeitsplatz in München und dem Wohnort Salzburg lag plötzlich wieder eine Grenze.

Es liegt eine feine Ironie in dem Umstand, dass ich kurz vor der aktuellen Krise mit der Arbeit an einem Fachartikel zum Thema global dis:connections begonnen hatte. Als Globalisierungshistoriker wollte ich darin erste Überlegungen unseres gleichnamigen interdisziplinären Forschungsschwerpunkts an der LMU München zusammenführen.

Roland Wenzlhuemer
Privat

Roland Wenzlhuemer lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Am Münchner Zentrum für Globalgeschichte erforscht er die Geschichte der Globalisierung im 19. und 20. Jahrhundert

Es ist eine unserer Kernthesen, dass Globalisierungsprozesse in Vergangenheit und Gegenwart stets gleichzeitig von globalen Verflechtungen und Entflechtungen, von Bewegung und Stillstand, gekennzeichnet waren und sind. Diese stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, das wir Dis:konnektivität nennen. Will man Globalisierungsphänomene verstehen, so gilt es zunächst diese Spannung zu analysieren.

Spannung statt Entschleunigung

Die Arbeit an diesem Artikel ruht gerade für unbestimmte Zeit. An neue Forschung oder auch nur an das Zusammenführen früherer Forschungsergebnisse ist angesichts der tagtäglichen Herausforderungen in der akademischen Verwaltung und Lehre kaum zu denken. Gleichzeitig aber hat die Realität der Corona-Krise meine theoretischen Überlegungen längst eingeholt. Gesellschaftlich sind wir alle zu einer Art Fallstudie zum Thema globale Dis:konnektivität geworden.

Man hört und liest immer wieder von einer angeblichen Entschleunigung unseres Lebens durch den Lockdown. Für die allermeisten Menschen passt das aber nicht zu ihren alltäglichen Erfahrungen in der Krise. Die wenigsten fühlen sich in einem positiven Sinne entschleunigt. Vielmehr wächst die Spannung zwischen den Anforderungen einer Welt, die sich trotz Corona weiterdreht, und den immer eingeschränkteren Möglichkeiten, diesen Anforderungen zu genügen.

In meinem eigenen Fall heißt das, nicht mehr zwischen meinem Wohnort Salzburg und dem Arbeitsort München pendeln zu können. An der Staatsgrenze, die ich sonst mehrmals die Woche überquerte, ohne sie überhaupt noch wahrzunehmen, wird konsequent kontrolliert. Der Zugverkehr ist ausgedünnt. Ich arbeite so gut es geht von zu Hause.

Privilegierte Situation

Mein Fokus liegt dabei zurzeit auf der Reorganisation des akademischen Lebens am Münchner Zentrum für Globalgeschichte und der universitären Lehre. Im Sommersemester hätten wir Gastwissenschaftler aus der ganzen Welt am Zentrum erwartet. Diese Besuche mussten – ebenso wie alle geplanten akademischen Veranstaltungen – abgesagt oder im besten Fall verschoben werden. In Einzelfällen werden wir versuchen, wissenschaftliche Gastvorträge mittels Webkonferenz zu realisieren. Noch dringlicher ist die Umstellung unserer Lehrveranstaltungen auf distance learning. Dies ist insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften, die großen Wert auf Diskussion und ein gemeinsames Erarbeiten von Inhalten legen, eine ziemliche Herausforderung, für die es bisher kein Patentrezept gibt.

Die beschriebenen Aufgaben lasten mich – auch angesichts des mehr oder weniger parallel stattfindenden Heimunterrichts der Kinder – weitgehend aus. Gleichzeitig ist die dis:konnektive Spannung dieser ungewöhnlichen Arbeits- und Lebenssituation für mich persönlich noch ganz gut handhabbar, manchmal sogar interessant. Ich bin beruflich und privat diesbezüglich in einer privilegierten Situation.

Ganz anders verhält sich das zurzeit aber für viele Menschen, die weniger flexibel sind oder in diesen Tagen besonders stark gefordert werden, zum Beispiel für Personal im Gesundheitswesen oder der kritischen Infrastruktur, für Alleinerziehende, prekär Beschäftige oder Angehörige von gesundheitlichen Risikogruppen. Für sie liegt in der Spannung zwischen den täglichen Anforderungen und dem notwendigen Stillstand mitunter eine existenzielle Herausforderung.