Leeres Klassenzimmer, aufgrund Coronavirus
APA/HANS PUNZ
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Krisenmanagement

„Kindergärten und Schulen aufsperren“

Kleine Geschäfte und Baumärkte haben wieder geöffnet, Kindergärten und Schulen hingegen bleiben im Krisenmodus. Dabei könnte man in drei Bundesländern wieder aufsperren, so der Public-Health-Experte Martin Sprenger. Er fordert, den Fokus mehr auf Kinder zu lenken.

„Der Fokus war jetzt sehr stark auf den Risikogruppen, und das sind in erster Linie ältere bzw. hochbetagte Menschen oder Menschen mit chronischen Erkrankungen. Kinder haben wir vollkommen vom Radar verloren,“ so Sprenger im Interview für den Ö1-„Corona-Podcast“. Der Gesundheitsexperte war bis vor Kurzem Mitglied im Coronavirus-Krisenstab der Regierung. Er sieht ein „teilweise unverzeihliches Verhalten“, indem Kindern die Spielplätze und Parks genommen wurden, sie sozial isoliert wurden.

Auf einem Schild steht „und Tschüss !“, dahinter sieht man einige Kinder.
APA/dpa/Arne Dedert
Kinder als „Virenschleudern“ zu bezeichnen und ihre sozialen Kontakte zu kappen, hält Sprenger für „höchst problematisch“

„Natürlich tragen Kinder zum Infektionsgeschehen bei. Aber es ist immer die Frage, wie managen wir das.“ Sprenger hat – damals noch Mitglied des Coronavirus-Krisenstabs – die Schließung von Kindergärten und Schulen in der Anfangsphase der Krise unterstützt. Ebenso hält er es für notwendig, dass Kinder sich von ihren Großeltern und Personen mit hohem Risiko distanzieren. „Dass man aber jetzt nicht Kindergärten und Schulen in zumindest drei Bundesländern wieder aufsperrt, verstehe ich persönlich nicht.“ Im Burgenland, in Kärnten und in der Steiermark könnte man mit der Betreuung für die Kleinsten und den ersten acht Schulstufen wieder starten, so der Gesundheitsexperte.

Seiner Einschätzung nach hätte das nicht nur den Effekt, dass Kinder wieder Kontakt mit Gleichaltrigen hätten und schulisch weiterkommen würden. Es würde auch berufstätige Eltern – in Gesundheits- und Sozialberufen laut internationaler Studie bis zu einem Drittel der Beschäftigen – entlasten und könnte für ein besseres Verständnis der Epidemie sorgen: „Wir könnten genau monitoren, was es bewirkt, wenn Schulen und Kindergärten wieder aufsperren. Wenn man sieht, dass sich in zwei bis drei Wochen nichts tut beim Krankheitsgeschehen, könnten die anderen sechs Bundesländer nachziehen. Sollte sich erschreckend viel tun, womit ich persönlich nicht rechne, dann müsste man auch die Konsequenzen ziehen.“

Zweifel an Schulen als Epidemieherde

Am bisher publizierten Bild von Kindergärten und Schulen als Epidemieherden hat Sprenger Zweifel und verweist auf einen „Rapid Review“ in „The Lancet“, in dem der Zusammenhang zwischen Schulschließungen während des Infektionsgeschehens untersucht wurde. Das Ergebnis: In 107 Ländern wurden seit dem 18. März die Schulen geschlossen, bis dato sei es aber unklar, ob und welchen Effekt das auf das pandemische Geschehen hatte. Daten von der SARS-Epidemie Anfang der 2000er Jahre in China, Hongkong und Singapur suggerieren, dass Schulschließungen nicht zur Kontrolle der Epidemie beitrugen.

Ö1 Sendungshinweis

Ein Interview mit Martin Sprenger war auch im Journal um 8 zu hören.

Im „Lancet“-Artikel werden aktuelle Modellierungsstudien zitiert, die zeigen würden, dass sie Sterbefälle um zwei bis vier Prozent reduzieren. „Im Gegenzug müssen wir die vielen negativen Auswirkungen bei Kindern und in Familien sehen – von psychischen Problemen durch Einsamkeit über schulisches Zurückfallen bis hin zur steigenden Gewalt“, so Sprenger. Politiker sollten sich dieser widersprüchlichen Evidenz bewusst sein, sagt der Experte. Außerdem sei es höchste Zeit, Expertinnen und Experten aus Pädagogik und Kinderpsychologie in die Beratungen über das weitere Vorgehen einzubeziehen.

Kinder seien nur eine Gruppe, die in den letzten Wochen kaum öffentliche Aufmerksamkeit bekommen hätten. Sprenger verweist im Podcast-Interview auch auf kranke Menschen, die durch Arztpraxen und Krankenhäuser im Covid-19-Modus möglicherweise keine entsprechende Versorgung bekommen haben. Die zurückgehenden Herzinfarktzahlen seien ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Versorgung durch den Fokus auf Covid-19 Lücken bekommen hat. Insgesamt fordert der Experte für Public Health einen breiteren Blick auf das Gesundheitssystem und die Veröffentlichung aller Daten, um die Gesellschaft gut durch die Coronavirus-Epidemie führen zu können.