Lange bevor es künstliche Pigmente gab, hatte der Mensch bereits eine Vorliebe für Buntes. Man war dabei auf natürlich vorkommende Farbstoffe angewiesen, aus Gestein oder aus Pflanzen. Das Spektrum war daher zuerst eingeschränkt. Die Höhlenmalereien der Jungsteinzeit sind oft rot, bräunlich oder ockerfarben. Auch bei bemalter Keramik oder gefärbten Stoffen wurden sehr lange diese Naturtöne verwendet, aber auch Pink oder Purpur.
Blau war ein Nachzügler. Die Farbe ist in der Natur vergleichsweise selten, und es ist schwierig, einen haltbaren blauen Farbstoff zu gewinnen. Einer der ältesten ist Indigo, er war bereits im antiken Ägypten und im Alten Rom gebräuchlich. Hergestellt wird er aus den Blättern der Indigopflanze. In Europa machte man dasselbe lange Zeit mit Färberwaid, der aber nur einen Bruchteil der Farbmenge ergab. Im Mittelalter färbte man damit beispielsweise Leinen blau. Die wertvollste blaue Variante war damals natürliches Ultramarin, das aus dem Halbedelstein Lapislazuli gewonnen wurde. Es kostete mehr als jeder andere Farbstoff und wurde daher zur Farbe der Könige und Mächtigen.
Blaues Kraut
Daneben gab es im Mittelalter aber noch einige andere, heute fast vergessene Blaus. Eines davon war Tournesol oder Folium, es wurde aus der auch als Heilkraut bekannten Pflanze Chrozophora tinctoria (Gewöhnliches Lackmuskraut) erzeugt. Sie ist im Mittelmeer-Raum weit verbreitet. Das leicht transparente und wässrige Blauviolett wurde zum Schreiben verwendet oder zum Färben von Lebensmitteln. Mit der Zeit gab es jedoch zunehmend haltbarere mineralische und später künstliche Pigmente, die die natürlichen Farbstoffe ersetzten.
Seit dem 19. Jahrhundert wurde so Tournesol gar nicht mehr hergestellt. Deswegen sei die molekulare Struktur des Farbstoffs bis heute unbekannt, schreiben die Forscherinnen und Forscher um Paula Nabais von der Neuen Universität Lissabon in ihrer soeben in der Fachzeitschrift „Science Advances“ erschienenen Studie. Dafür hat das interdisziplinäre Team aus Chemikerinnen, Botanikern und Restauratorinnen nun versucht, den Farbstoff nach Anleitungen aus dem 12., 14. und 15. Jahrhundert selbst herzustellen.
Für Käserinde
Die Beschreibungen der Herstellung seien extrem detailliert. Demnach sind tatsächlich ausschließlich Früchte des Lackmuskrauts für den in Tüchern bewahrten Farbstoff verwendet worden und nicht auch Flechten, wie in anderen Schriften zu lesen ist.
Zusätzlich gebe es noch neuere Aufzeichnungen aus der französischen Region Grand-Gallargues, wo der Farbstoff noch im 19. Jahrhundert hergestellt und gern für die Rinde von holländischem Käse verwendet worden ist. Beschrieben wird dort auch, wann man die Früchte am besten sammelt und dass man sie im Ganzen verwenden sollte. Wenn sie austrocknen, werden sie intensiv dunkelblau bis violett.
Eigene Pigmentklasse
Um die Farbe herzustellen und dann untersuchen zu können, haben Nabis und ihre Kollegen im Sommer 2017 und 2018 im südlichen Portugal Früchte des bis zu 40 Zentimeter hohen graugrünen und fein behaarten Krauts gesammelt. Das daraus nach den historischen Anleitungen gewonnene blaue Pigment wurde dann mit modernsten Methoden untersucht, mit chromatografischen Trennmethoden, mit Kernspinresonanz- und Massenspektroskopie.
So konnten die Forscherinnen und Forscher feststellen, welches Makromolekül für die blauviolette Farbe verantwortlich ist: Sie nannten es Chrozophoridin. Der Farbstoff gehöre chemisch zu einer völlig neuen Klasse: Er zähle nicht zu den Anthocyanen – Farbstoffe, die sich in vielen Blüten und Früchten finden -, aber auch nicht zu den Indigofarben.
Die Kenntnis der chemischen Struktur wird laut den Autorinnen und Autoren auch praktische Anwendung finden, etwa wenn man 1.000 Jahre alte Schriften angemessen restaurieren möchte.