Das Zentrum der Milchstraße aufgenommen durch das Spitzer Space Teleskop der NASA
AFP/NASA
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Antimaterie

Im Urgrund des Universums

Warum gibt es so viel mehr Materie als Antimaterie? Seit mehr als einem halben Jahrhundert suchen Physiker nach einer Antwort – endlich ist eine in Sicht: Die rätselhafte Asymmetrie des Universums könnte mit dem Verhalten von Neutrinos zu tun haben.

Physiker lieben Symmetrien. Ohne Symmetrie würden die meisten Naturgesetze nicht funktionieren, eines der fundamentalsten lautet: Gäbe es ein Spiegeluniversum, eines, in dem links rechts wäre, die Zeit rückwärtslaufen würde und außerdem negative und positive Ladungen vertauscht wären – dann würde sich gar nichts ändern. Alles wäre so wie gehabt.

Leider gibt es in diesem wohlgeordneten Weltbild eine nicht zu übersehende Schwachstelle. Materie und Antimaterie verhalten sich im Universum alles andere als symmetrisch, letztere ist noch nicht einmal eine Randerscheinung in der globalen Bilanz, obwohl das Verhältnis der beiden Materieformen zum Zeitpunkt des Urknalls gleich gewesen sein muss. Das hat, existenziell betrachtet, gewisse Vorteile: Wäre das Verhältnis nach wie vor 50:50, würden einander Materie und Antimaterie auslöschen. Es gäbe es keine Sterne, keine Planeten und auch keine Menschen, die sich den Kopf darüber zerbrechen, warum das so ist. Aus physikalischer Sicht ruft dieses Ungleichgewicht umso mehr nach einer Erklärung – gelungen ist es bisher nicht.

Die erste Spur: Mesonen

Im Jahr 1964 entdeckten drei US-amerikanische und ein französischer Physiker beim Zerfall schwerer neutraler Teilchen, sogenannten K-Mesonen, eine winzige Unregelmäßigkeit. Wenn K-Mesonen in Pionen zerfallen, weicht das Verhältnis der Produkte im Promillebereich von der Symmetrie ab. Der russische Physiker Andrei Sacharow, vielen besser bekannt wegen seines Einsatzes für Menschenrechte in der Sowjetunion, erkannte als einer der ersten, dass diese Laune der K-Mesonen ein Weg wäre, um das Missverhältnis von Materie und Antimaterie im Universum zu erklären. Das Problem war und ist nur: Dieser Symmetriebruch („CP-Verletzung“ genannt) ist zu klein. In der Natur muss es noch ähnliche, bislang unentdeckte Vorgänge geben, um die doppelte Buchhaltung der Teilchenphysiker wieder ins Lot zu bringen.

Die Erde im Weltraum, im Hintergrund: die Galaxis
Public Domain
Lösen Neutrinos das kosmische Rätsel?

Forscher der T2K-Kollaboration versuchen seit 2009 so eine CP-Verletzung in anderen Bereichen der Elementarteilchenphysik aufzuspüren. Im Fachblatt „Nature“ ist diese Woche eine Zusammenschau ihrer jahrelangen Bemühungen erschienen. Fazit: Es sieht gut aus, möglicherweise wurde endlich jener Mechanismus entdeckt, der für diese Asymmetrie – und letztlich: für die Existenz aller Dinge im Universum verantwortlich ist. Die Spur führt zu den Neutrinos.

Neutrino-Experiment

Neutrinos sind fundamentale und unsichtbare Teilchen, sie rasen durchs Universum und die Materie. Von alldem bekommen wir jedoch nichts mit. Durch eine normale Kaffeetasse etwa strömen permanent 100.000 solcher „kalten“ Neutrinos, die den langen Weg von der Sonne zur Erde zurückgelegt haben. Der Kaffee bleibt davon völlig unbeeinflusst, um der Teilchen habhaft zu werden, muss man größeren Aufwand betreiben.

Beim T2K-Experiment geht das folgendermaßen vor sich: In Tokai, Japan, schießen die Forscher einen Protonenstrahl mit hoher Geschwindigkeit auf ein Stück Graphit, dabei entstehen über ein paar Zwischenstufen Neutrinos. Sie verlassen umgehend den Ort des Geschehens, durchdringen die Erde – einige davon tauchen bei ihrer Reise durch Raum und Materie im 295 Kilometer entfernten Kamioka-Observatorium auf, wo die Forscher tief unter der Erde einen Detektor inmitten eines 50.000 Tonnen schweren, mit ultrareinem Wasser gefüllten Tanks errichtet haben. Selten aber doch passiert es nämlich, dass ein Neutrino auf ein Neutron des Wassermoleküls trifft.

Und dann passiert etwas Seltsames: Die Neutrinos treten in drei verschiedenen „Flavours“ auf, eine Quanteneigenschaft, die sich durch ebenjene Kollision mit dem Neutron bestimmen lässt. Die Messungen fördern gleichwohl eine Unentschiedenheit der Neutrinos zutage, die Teilchen wechseln ihre Identität, sie sind mal mit diesem, mal mit einem anderen „Flavour“ anzutreffen.

Antwort auf Raten

An diesem Punkt, schreiben die Wissenschaftler der T2K-Kollaboration, macht die Natur offenbar von der lange gesuchten Asymmetrie Gebrauch. Alle in den letzten Jahren untersuchten Neutrino-Oszillationen zusammengenommen weisen die Daten auf eine neuartige CP-Verletzung hin, die groß genug wäre, um das Rätsel zu lösen.

Eine wissenschaftliche Sensation? Fast. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass es sich so verhält, liegt momentan bei 95 Prozent. Das gilt in der Physik noch nicht als Beweis. Um wirklich sicher zu sein, wären 99,9999 Prozent nötig. Dieses Niveau wird mit der gegenwärtigen Technologie nicht zu erreichen sein, daher denken die Physiker bereits in größeren Dimensionen.

Im Februar gaben die japanischen Behörden grünes Licht für das T2HK-Experiment, bei dem ein noch stärkerer Protonenstrahl Neutrinos für einen etwa zehn Mal so empfindlichen Detektor liefern soll. Auch in den USA, am Sanford Lab in South Dakota, ist ein ähnlich aufwändiger Versuch geplant. Nun gilt es, sich in Geduld zu üben: Mit einer endgültigen Antwort rechnen die Forscher in rund 15 Jahren.