Weiße Zahlen durcheinander vor blauem Hintergrund
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Transparenz

Coronavirus-Epidemie mit Datenlücken

„Politics by numbers“ ist in Österreich seit Mitte März politischer Alltag. Keine Maßnahme, keine Lockerung wird ohne zugehörige Zahlen und Diagramme präsentiert. Diese Kennziffern sind aber bei Weitem nicht so transparent, wie man annehmen würde.

Zu Beginn konzentrierten sich alle auf die Zahl der Menschen, bei denen ein Test auf SARS-CoV-2 positiv verlaufen ist. Als „Infektionsrate“ wurde das bezeichnet, sehr bald hat sich aber in Politik und Medien die Erkenntnis durchgesetzt, dass diese Zahl die Wirklichkeit nur eingeschränkt widerspiegelt: Nicht nur die Dunkelziffer infizierter Menschen ohne Test blieb unbeachtet. Zusätzlich zeigte diese absolute Zahl vor allem, wie viele Tests von diversen Labors bei der Zentralstelle gemeldet wurden.

Besonders deutlich wurde das, als am 2. April plötzlich 30.000 Tests mehr als am Vortag aufschienen, die Erklärung seitens des Gesundheitsministeriums: Viele Labors hätten Tests nachgemeldet, deshalb der sprunghafte Anstieg. „Das ist nicht unbedingt dazu geeignet, das Vertrauen der Bevölkerung in die Daten der Behörden zu stärken“, sagte Jakob Weichenberger, Leiter des Datenteams der Zeit-im-Bild-Redaktion.

Röhrchen mit Blut und der Aufschrift  2019-nCoV
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Im Ö1-„Corona-Podcast“ spricht Jakob Weichenberger weitere Probleme im Umgang der heimischen Politik und Verwaltung mit Epidemiedaten an. „Auch nach der dritten Überarbeitung der zentralen Datenwebsite des Gesundheitsministeriums gibt es keine auslesbaren Zeitreihen.“ Zwar werde jetzt eine epidemiologische Kurve dargestellt, die Veränderungen von Tag zu Tag seien aber nicht maschinenlesbar, so der ORF-Datenjournalist. „Das heißt konkret, um den Verlauf der Epidemie nachzuvollziehen, muss man entweder selbst ein Programm schreiben, das die Daten abgreift, oder sie händisch in ein Spreadsheet übertragen.“ Als Datenjournalist könne man das schon machen, das gehöre zum Alltag, aber „eigentlich sollte es für jeden Bürger, jede Bürgerin möglich sein“, so Weichenberger.

Intensivpatienten verstorben oder verlegt?

Neben dem Fehlen von Zeitreihen gibt es auch inhaltliche Leerstellen, die das Verständnis der Epidemie schwieriger machen. „Zum Beispiel schwankt die Zahl der Intensivpatienten von Tag zu Tag, derzeit wird sie meist geringer. Wir wissen aber nicht: Sind diese Patienten verstorben oder so weit am Weg der Besserung, dass sie auf eine Normalstation verlegt wurden?“ In Deutschland werden diese Zahlen vom Robert-Koch-Institut veröffentlicht, so Weichenberger. „Da sieht man: Bisher waren 6.000 Menschen in einer Intensivstation, 30 Prozent davon sind verstorben, 70 Prozent konnten auf eine Normalstation verlegt werden.“

Ö1 Sendungshinweis

Über das Thema berichtet auch Wissen aktuell am 21.4.2020.

In Deutschland werde dafür das Intensivregister ausgewertet, in Österreich gibt es genau diese Daten nicht. „Wir wissen also nicht, wie erfolgreich die Behandlung von Intensivpatienten hierzulande ist.“ Man könne sich nur über den Abgleich von Sterbe- und Intensivzahlen annähern. „Annäherungen und Vermutungen halte ich aber nicht für eine geeignete Grundlage, um die Situation im Land seriös zu bewerten.“

Fehlende Grunddaten

Eine Transparenzlücke ortet Weichenberger auch bei den Grunddaten der Epidemie: So gebe es keine öffentlich zugängliche Information, ob und welche Vorerkrankungen heimische Patienten haben und wie diese Erkrankungen den Verlauf der Coronavirus-Erkrankung beeinflussen. „Man kann sich in Österreich nicht einmal anschauen, ob mehr Frauen oder Männer über 65 stärker betroffen sind, es gibt keine Geschlechtsverteilung der Intensivpatienten.“ Auch die Wissenschaft betrifft das mittlerweile stark, weil sie keine Studien zum klinischen Verlauf der Erkrankung erstellen kann, wie das international üblich ist.

Der Public-Health-Experte Martin Sprenger von der Medizin-Universität Graz kritisierte zuletzt im Podcast-Interview, dass in internationalen Datenbanken mit Studien zur aktuellen Epidemie keine einzige aus Österreich komme – „das sagt auch etwas über unseren Umgang damit“.

Berechnung der Reproduktionszahl

Und nicht zuletzt sieht es auch bei einer der zentralen Ziffern der politischen Debatte nicht gerade rosig in Sachen Transparenz aus: Die effektive Reproduktionszahl beziffert, wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt. Sie müsse unter eins sein, damit genügend Kapazitäten im Gesundheitssystem vorhanden sind, so die politische Vorgabe. Die deutsche Bundeskanzlerin, selbst Naturwissenschaftlerin, erklärte ihre Bedeutung zuletzt so:

In Österreich wird diese Reproduktionszahl, vom Bundeskanzler auch gerne als Replikationszahl bezeichnet, von der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) berechnet und veröffentlicht. „Da gibt es ein kurz gehaltenes Dokument, in dem grundsätzlich erklärt wird, wie die Zahl entsteht. Aber die konkreten Zahlen, die einfließen, und die genaue Rechenoperation bleiben unbekannt“, so Weichenberger. Das Gesundheitsministerium bestätigt das auf Anfrage, man werde mit der AGES über eine Offenlegung sprechen.

Anm. 21.4., 15.30 Uhr: Die AGES verweist in einer Reaktion auf ein Dokument zur Methodenbeschreibung, das kürzlich online gestellt worden sei und wo sich die Rechenanleitung zur Reproduktionszahl findet.

„Wenn mit Zahlen begründet wird, warum es welche Maßnahmen braucht, dann müssen diese Zahlen nachvollziehbar sein – nicht nur für Datenjournalisten, sondern für möglichst alle Menschen.“ Besonders wichtig sei das jetzt, nachdem die Intensivphase der Epidemie zumindest vorerst überwunden scheint: „Wo stehen wie viele Tests zur Verfügung, wie schnell kann getestet werden, damit ein Ausbruch eingegrenzt wird?“ Da brauche es ebenso transparente Zahlen wie bei der Entscheidung, ob und welche Schulen wieder aufsperren.

Andreas Sönnichsen, Leiter der Abteilung Allgemeinmedizin an der Medizinischen Universität Wien, kritisierte zuletzt in der ORF-Sendung „Im Zentrum“, dass Schulen und Kindergärten in Österreich ohne wissenschaftliche Begleitung geschlossen worden seien: „Wir machen Dinge, die nicht evidenzbasiert sind“, so Sönnichsen. „Große Fragen wie die Öffnung von Kindergärten und Schulen sollten anhand von öffentlich nachvollziehbaren Modellrechnungen entschieden werden und nicht auf Basis von Emotionen, zumindest wäre das mein Wunsch“, so ORF-Datenjournalist Weichenberger.