Arzt mit Pest-Schutzanzug im 17. Jahrhundert
Pandemien

Was wir von Pest & Co. lernen können

Pocken, Pest und Grippe – Pandemien sind nichts Neues. Der Historiker Christian Cwik und sein Team untersuchen Seuchenausbrüche im 17. und 18. Jahrhundert. Wie sie in einem Gastbeitrag an Beispielen ausführen, habe die Bekämpfung oft zur Vernachlässigung anderer Lebensbereiche geführt. Die Krise wurde dadurch verschärft bzw. verlängert.

Epidemien zählen zu den ständigen Begleitern der Menschheitsgeschichte. Sie sind Teil einer Normalität, die weder neu noch abnorm ist. Die durch sie ausgelösten Krankheiten lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen, etwa die Influenza, Masern oder Pocken. Belege für Pocken reichen sogar bis zum Jahr 12.000 v. Chr. zurück. Bis jetzt hat die Menschheit jedoch noch jede Epidemie bzw. Pandemie überlebt und das trotz ungleich schwierigerer Bedingungen, als sie gegenwärtig herrschen.

Christian Cwik, Stefan Rabitsch und Mark Stieger untersuchen in einer Studie am Zentrum für Inter-Amerikanische Studien der Universität Graz den Umgang mit verschiedenen Seuchenausbrüchen in Graz, Bridgetown (Barbados) und Boston im 17. und 18. Jahrhundert.

Wie intensiv oder schlimm eine Seuche verläuft, hängt und hing von vielen verschiedenen Parametern ab. Neben klimatischen und geographischen Faktoren waren das unterschiedliche Hygienestandards, die Qualität der medizinischen Versorgung, die leibliche Beschaffenheit der Menschen sowie die wirtschaftliche und politische Situation (z.B. Kriege) am Ausbruchsort. Diese variierten oft schon von Ort zu Ort, von Region zu Region, nationale Betrachtungsweisen waren und sind fehl am Platz.

Die drei von uns untersuchten Epidemien haben stets multiple Krisen ausgelöst. Die eigentliche Gesundheitskrise produzierte immer auch ökonomische, soziale, politische und kulturelle Krisen. Die Anstrengungen, die auf medizinischer Ebene unternommen wurden, um die eigentliche Seuche einzudämmen und auszurotten, führten unweigerlich zur Vernachlässigung von überlebensnotwendigen Sektoren, wodurch sich die Krise noch verschärfte oder sogar noch andauerte, obwohl die Seuche selbst bereits ausgerottet war. Grund für diese Kettenreaktion waren die Maßnahmenbündel, mit denen der Epidemie entgegengetreten wurde. In allen von uns untersuchten Fällen – also sowohl in Graz, Boston und Barbados – kam es zu Grenz- und Hafenschließungen, Quarantäne, Justizwillkür sowie Zwangsarbeit.

Fall 1: Die Seuche in Graz

Die Frage nach der Einschleppung der Krankheit sowie der Suche nach dem Patienten 0 ist meist schwierig. In der Steiermark waren es angeblich Kaiser Leopold I. und sein Gefolge, die 1679 vor der Pest von Wien nach Mariazell geflohen war und so die Seuche in die Steiermark verschleppten. Erste Krankheitsfälle sind jedoch bereits im Herbst 1678 in der Untersteiermark, bei Windischgrätz und Cilli dokumentiert. Beim Patienten 0 soll es sich um einen fremden Flößer gehandelt haben, der in einem Grazer Wirtshaus eingekehrt war und dort den Wirt, seine Schwägerin und seinen Bruder angesteckt haben soll, bevor er selbst verstarb. Ob es sich bei diesem Ausbruch überhaupt um die orientalische Beulenpest handelte, ist bis heute umstritten. Die beschriebenen medizinischen Symptome ähnelten stark jenen des Milzbrandes. Die Rede war von einer sich über einen stetigen Zeitraum gleichmäßig ausbreitenden Krankheit mit „offenen und beweglichen Symptomen“.

Holzschnitt von John Everett Millais: Pesttote auf einem Karren
gemeinfrei
Pesttote auf einem Karren

Graz zählte 1679 rund 15.000 Einwohner. Von Dezember 1679 bis zum Jänner 1681 verstarben laut Aufzeichnungen der Totengräber, insgesamt 3.465 der 4.608 am „mortui peste“ erkrankten Bürger*innen. Das entspricht somit rund einem Fünftel der Gesamtbevölkerung. Alle Schulen sowie die damals von Jesuiten geführte Universität Graz mussten geschlossen werden. Die politische Führung angefangen beim Landeshauptmann Georg Christian Graf von Saurau über die Aristokratie bis zum reichen Bürgertum flüchtete ins pestfreie Bruck an der Mur.

Willkür der Herrschenden

Die systematische Quarantäne von Graz begann mit der Blockade der Zufahrtstraßen (Pestkordon), wodurch die Bevölkerung innerhalb der Stadtmauern sich selbst überlassen war. Kontakte wurden unterbunden und die untertänigste Landbevölkerung gezwungen als Miliz zur „Seuchenabwehr“ einzurücken. Kaiser Leopold I. veranlasste die Grenzen zu schließen. Reisende wurden in Quarantäne (Contumazanstalten) gesteckt, die unter militärischer Aufsicht gestellt wurden. Diese Gesundheitskontrollen galten auch für Tiere und in einigen Fällen auch für Waren. In der Wahrnehmung der Bevölkerung verbreiteten die Soldaten jedoch mehr Schrecken als die Pest selbst. Zuvor bereits marginalisierte und diskriminierte Gruppen (Juden, Roma, Protestanten, Bettler, Kranke etc.) wurden per Gesetz abgesondert.

Paul de Sorbait
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Paul de Sorbait

Als Grundlage für diese Maßnahmen diente die vom Medizinprofessor Paul de Sorbait (1624-1691) publizierte Pest-Ordnung. Der ehemalige Rektor der Universität Wien, war Mitglied des Seuchenkrisenstabes. Neben medizinischen Maßnahmen verlangte man den Untertanen einen Verhaltenskodex ab, der z.B. „unzüchtiges Leben“ sowie „Empörung und Aufruhr gegen den Landesfürsten und die Obrigkeit“ unter schwerste Strafen stellte. Die Willkür der Herrschenden gegenüber ihren Untertanen in Zeiten der Seuche, zieht sich durch alle von uns untersuchten Fälle.

Langfristige Veränderung

Die verschlossenen Stadttore führten zu einer Lebensmittelknappheit in der Stadt, ein wichtiger Grund, warum Seuchen urbane Bereiche besonders hart trafen. Die Lebensmittelpreise in Graz stiegen an und Hungersnöte brachen aus, die nur durch Sonderlieferungen der Regierung in Wien gemildert werden konnten. Das soziale Leben brach zusammen, vor allem, weil die Gottesdienste ausgesetzt wurden und die meisten Gaststätten, Bade- und Branntweinstuben aufgrund der Infektionsordnung gesperrt waren. Trotzdem ließen sich einige Steirer nicht von ihrer Genusssucht abhalten.

Ö1-Hinweise

Den historischen Pandemien widmet sich auch die aktuelle Folge des Ö1-Corona-Podcasts und ein Beitrag in Wissen aktuell.

Auf den Totenlisten sind vor allem ältere Kranke sowie ärmere Leute zu finden. Die Meinung der Kontagionisten, die Krankheitssamen (seminaria) bzw. belebte Keime (contagia viva), die durch Berührung (contagione) übertragen werden, als Krankheitsursache betrachteten, blieb in der Minderheit. Interessant ist auch, dass drei Jahre zuvor (1676) Graz 6.000 Tote zu beklagen hatte, also mehr als im härtesten Pestjahr 1680, dies jedoch in der Historiographie keine Erwähnung fand. Verantwortlich dafür war die rote Ruhr (Dysenterie), der vor allem Kinder zum Opfer fielen.

Die Verschuldung der Stadt durch die Seuche verschärfte die Krise über das Jahr 1683 hinweg. Hinzu kam ein großer Mangel an Handwerkern. Das Stadtbild veränderte sich nachhaltig. Erst Ende Jänner 1681 traute sich die Regierung wieder nach Graz. Bis in den März 1681 dauerte es, bis die Schulen wieder geöffnet werden konnten, der Ägydimarkt öffnete sicherheitshalber erst im November 1681 seine Pforten.

Fall 2: Bridgetown, 1647

Der englische Bürgerkrieg tobte bereits seit fünf Jahren, als auf der englischen Karibikinsel Barbados 1647 eine verheerende Seuche ausbrach. Bis heute ist nicht klar, ob es sich dabei um Influenza oder Gelbfieber handelte. Für Influenza spricht, dass sie sich im selben Jahr im benachbarten nördlichen „spanischen“ Südamerika epidemisch ausbreitete.

Für Gelbfieber spräche, dass die Krankheit über die gerade beginnenden afrikanischen Sklaventransporte nach Barbados eingeschleppt wurde. Der Anbau von Tabak und Zuckerrohr führte in sehr kurzer Zeit zu einem massiven Bevölkerungsanstieg. Die Hauptstadt Bridgetown war mit seinen rund 14.000 Einwohnern in nur 20 Jahren zur größten englischen Stadt herangewachsen. Die Seuche von 1647 stoppte mit seinen etwa 6.000 Todesopfern das demographische Wachstum.

Vom Massensterben zum Aufschwung

Schilderungen über die „die Pest, oder eine ähnlich tödliche Krankheit“ liefert uns Richard Ligon, der nur einen Monat nach dem Ausbruch der Epidemie nach Bridgetown gereist war. Ligon studierte die Symptomatik des Fiebers, das er als täglich wiederkehrend, wechselnd oder dreitägig auftretend, beschreibt. Auffällig, so Ligon weiter, wäre die Mortalität, weswegen er geneigt sei, diese tödliche Krankheit als Pest zu bezeichnen.

In seiner bahnbrechenden 1933 publizierten Studie zur Geschichte der Influenza-Epidemien beschreibt John Townsend die Seuche auf Barbados allerdings als Influenza., wobei er sich auf das nicht einheitliche Krankheitsbild berief. Dagegen stehen die Schilderungen Ligons, der selbst während seines Aufenthalts auf Barbados 1647 erkrankte, und den Verlauf schildert, der in der Forschung oft als Gelbfieber gedeutet wird, obwohl unverwechselbare Indikatoren wie die Gelbfärbung der Augen fehlten.

Hafen von Boston 1840
gemeinfrei
Hafen von Boston, 1840

In Boston und anderen englischen Hafenstädten in Nordamerika wurden Schiffe aus Barbados kommend in Quarantäne gesteckt. Quasi geächtet, verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation auf der Insel und eine Hungersnot drohte. Nachdem nahezu 50 Prozent der Bevölkerung verstarben, fehlte es an Arbeitskräften auf den Plantagen, weswegen man sich entschloss, die Insel für jüdische Zuckeringenieure zu öffnen und die Sklaveneinfuhr zu steigern. Postpandemisch betrachtet kam es nach der Seuche zu einem wirtschaftlichen Aufschwung, der Barbados in nur wenigen Jahren zur profitreichsten Kolonie Englands werden ließ.

Fall 3: Boston und die Herdenimmunität

Das Beispiel der Pockenepidemie in Boston 1721 ähnelte – was die politischen und wirtschaftlichen Verordnungen betraf – sehr den beschriebenen Maßnahmen gegen die Pest in Österreich. Ein Gründungsmitglied der Harvard Medical School, Dr. Benjamin Waterhouse, bezeichnete jene „freiwillige Aufgabe der Freiheit in dieser demokratischsten Region der Erde“ als Maßnahmen, „die kein absoluter Herrscher je hätte durchführen können“. Die Mortalitätsrate bei Pocken liegt bei bis zu 50 Prozent, ein Großteil der Überlebenden kämpfte postepidemisch mit Erblindungen und Entstellungen. Von den 12.000 Einwohner*innen von Boston infizierten sich 5.769. Allerdings verstarben nur 844.

Dokument zur Inoculation
Originaldokument zur Inokulation

Obwohl nur etwa 40 Jahre nach der Pest in Graz, dient Boston als Präzedenzfall in der Frage um Inokulationtechnologien und Herdenimmunisierung. Mittels der bewussten Infektion von gesunden Körpern durch in den Blutkreislauf infizierten Pockensekrets (Variolation), erreichte man einen milderen Verlauf der Krankheit und verringerte so die Anzahl der Wirte. Auf diese Weise wurde versucht, die Bevölkerung kontrolliert zu durchseuchen. Nach England gelangte das Wissen über Inokulation durch eine Publikation von Emanuel Timonius 1714, der die Anwendung im Osmanischen Reich ab 1650 verortet, sowie andern Asiatischen Ländern (insbesondere China), beschreibt. Da diese Methode im Gegensatz zur allgemein geltenden Humoralpathologie stand, führte dies zu ideologischen Konflikten zwischen der puritanischen Kolonialelite, die sich für die Inokulation aussprach und den in Boston ansässigen Medizinern. Die Ärzte verglichen die Inokulation mit Mord und forderten die Todesstrafe für die Befürworter.

Vorerst umstritten

Doch wer sollte in Boston die Kosten für die Inokulation tragen? Das neugefundene Wundermittel drohte zum Heilmittel der Reichen, auf Kosten der Armen zu werden. Der prekären ökonomischen Folgen bewusst, beschloss die Stadtregierung 1.000 Pfund unter all jenen zu verteilen, die nicht im Stande waren ihre Familien zu ernähren. Nach dem Ende Pockenepidemie wurde Variolation in Boston legislativ reguliert und war zunächst in epidemiefreien Zeiten verboten. Bei einem Ausbruch der Pocken mussten die Namen all jener, die sich inokulieren ließen, veröffentlicht werden. Zusätzlich investierte die Stadt in die Errichtung von Pesthäusern und Isolationsquartieren. Es wurden Gesetze erlassen, die den Stadtverweis bzw. die Zwangsquarantäne von Menschen, bei denen eine Infizierung vermutet wurde, erleichtert.

Obwohl sich während der Pockenepidemie Variolation als brauchbare Präventionsmethode erwiesen hatte, setzte sie sich vorerst nicht durch. Erst als die Quarantänemaßnahmen in den darauffolgenden Epidemien versagte, wurde Variolation geduldet. Der Durchbruch gelang 1777 unter George Washington, als er sich, entgegen der Gesetzeslage, in Anbetracht der Verluste von tausenden Soldaten durch die Pocken zur Zwangsinokulation seiner 40.000 Soldaten entschied. Die damit einhergehende Infektionsreduktion von 20 auf ein Prozent veranlasste den Kontinentalkongress die Virulationsverbote aufzuheben.