Nachgestellte Gefechtsszene sowjetischer Truppen mit einem von den USA gelieferten Panzer. Die Kulisse von Denkmälern und Naturhistorischem Museum weist für das Zielpublikum in der UdSSR auf den Schauplatz Wien/Österreich hin.
Simon Raskin, Maria-Theresien-Platz, Wien, April 1945, ÖNB, Bildarchiv und Grafiksammlung
Simon Raskin, Maria-Theresien-Platz, Wien, April 1945, ÖNB, Bildarchiv und Grafiksammlung
75 Jahre

27. April 1945: Aufbruch und finaler Terror

Am 27. April 1945 hat Österreich im bereits befreiten Wien seine Unabhängigkeit erklärt. Doch während in Wien schon viele Menschen feierten, begingen die Nazis im Rest des Landes noch Zehntausende Verbrechen, wie die Historikerinnen Monika Sommer und Heidemarie Uhl in einem Gastbeitrag schreiben.

Dieses Foto findet sich wohl in fast jedem österreichischen Zeitgeschichte-Schulbuch: die Mitglieder der Provisorischen Regierung mit Staatskanzler Karl Renner an der Spitze am 29. April 1945, auf dem Weg vom Wiener Rathaus zum Parlament, gesäumt von einem Spalier jubelnder Menschen.

Archivaufnahme vom 29.4. 1945 zeigt den damaligen Staatskanzler Karl Renner nach der Konstituierung der provisorischen Staatsregierung 

HEERESGESCHICHTL. MUSEUM / ARSENAL
APA/HEEREGESCHICHTL. MUSEUM / ARSENAL

Es gibt weitere Fotos von der Wiener Ringstraße an diesem Tag. Sie zeigen Menschen, die zu den Klängen einer sowjetischen Militärkapelle Walzer tanzen. Der eigentliche Gründungsakt der Zweiten Republik ist jedoch nicht fotografisch dokumentiert. Am 27. April 1945 proklamierte die Provisorische Regierung in der Unabhängigkeitserklärung die Wiederherstellung der demokratischen Republik Österreich.

Heidemarie Uhl
APA/HERBERT NEUBAUER

Heidemarie Uhl forscht am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Monika Sommer
APA/HANS PUNZ

Monika Sommer leitet das Haus der Geschichte Österreich in Wien.

Sieben Jahre, seit dem „Anschluss“ im März 1938, war das Land Teil des nationalsozialistischen Deutschen Reichs gewesen. Die provisorische Regierung wurde von der sowjetischen Armee eingesetzt, ihr gehörten Vertreter der Sozialistischen Partei, der Volkspartei und der Kommunistischen Partei an. Bereits unmittelbar nach der Befreiung Wiens am 13. April 1945 hatten sich die politischen Parteien wieder konstituiert.

Standgerichte fällten Todesurteile

An diesem 27. April 1945 waren weite Teile des Deutschen Reichs noch unter nationalsozialistischer Herrschaft oder aber Kriegsgebiet. Beim Kampf um Berlin starben in diesen Tagen Zehntausende Soldaten und Zivilist/inn/en. Auch im Großteil des heutigen Österreich war das NS-Regime noch bis zum Kriegsende an der Macht. Damit konnte der nationalsozialistische Terror gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner und Deserteure weiterhin wüten. In der Endphase des Krieges, die Niederlage Hitler-Deutschlands vor Augen, verübten nationalsozialistische Funktionäre insbesondere auch auf regionaler und lokaler Ebene einen beispiellosen Terror nach innen, gegen die eigene Bevölkerung.

Diese Endphaseverbrechen – dieser Begriff hat sich in der historischen Forschung im letzten Jahrzehnt durchgesetzt – kennzeichnen die letzten Kriegstage im gesamten deutschen Reich. Wer sich gegen die fanatischen Durchhalteparolen wandte und sinnlose Gewalt verhindern wollte, war mit dem Tod bedroht. Ab Ende Februar 1945 konnten in „feindbedrohten“ Gebieten Standgerichte eingerichtet werden, die jeden verfolgten, der „die deutsche Kampfkraft oder Kampfentschlossenheit“ gefährdet – so der Wortlaut der Verordnung über die Errichtung von Standgerichten vom 15. Februar 1945. Todesurteile wurden zumeist sofort vollstreckt.

Schlacht um Wien

Im Frühjahr 1945 war der militärische Sieg der Alliierten über Hitler-Deutschland nur noch eine Frage von einigen Wochen. Für Österreich begann das Ende des NS-Regimes am 29. März 1945. An diesem Tag überschritten sowjetische Truppen die Grenze im burgenländischen Klostermarienberg. Das Ziel war Wien. Am 2. April erreichten sowjetische Truppen Baden.

„Wien ist zum Verteidigungsbereich erklärt worden. Frauen und Kindern wird empfohlen, die Stadt zu verlassen. Der Reichsverteidigungs-Kommisar.“
Darübergeschrieben „Wohin?“
VGA/Pressestelle der Stadt Wien

Am 3. April wurde Wien von den Nationalsozialisten zum Verteidigungsbereich erklärt. Plakate forderten Frauen und Kinder auf, die Stadt zu verlassen. Eines dieser Plakate ist im Haus der Geschichte Österreich ausgestellt – jemand hat es handschriftlich mit der treffenden Frage „Wohin?“ versehen. Gauleiter Baldur von Schirach forderte die Wienerinnen und Wiener auf, ihre „Pflicht bis zum äußersten“ zu tun. Zugleich verhängte er das Standrecht.

Letzte Massaker

Von einem Standgericht verurteilt wurden in Wien etwa Major Karl Biedermann, Hauptmann Alfred Huth und Oberleutnant Rudolf Raschke, weil sie als Angehörige des militärischen Widerstandes versucht hatten, Kontakt zur Roten Armee aufzunehmen. Ihr Ziel war es gewesen, Wien kampflos zu übergeben, um Menschenleben zu retten und weitere Zerstörungen zu verhindern. Die drei Militärs wurden am 8. April 1945 am Floridsdorfer Spitz öffentlich gehenkt. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Rote Armee bereits in der Wiener Innenstadt.

Noch in den letzten Stunden der Schlacht um Wien machten SS-Einheiten Jagd auf Regimegegner, fahnenflüchtige Soldaten und auf die letzten in Wien verbliebenen Jüdinnen und Juden. Am 11. April 1945, kurz vor dem Eintreffen der Roten Armee, verübten SS-Männer ein Massaker an neun Jüdinnen und Juden, die sich in einem Keller in der Förstergasse im 2. Wiener Gemeindebezirk versteckt hatten.

Am 13. April war die Schlacht um Wien nach sieben Tagen zu Ende. Mehr als 35.000 Menschen – Soldaten und Zivilist/inn/en – haben dabei ihr Leben verloren. Für jüdische U-Boote, untergetauchte Deserteure und Regimegegnerinnen und -gegner – darunter der spätere Bundeskanzler Leopold Figl – war die Gefahr gebannt, nationalsozialistischen Fanatikern noch in den letzten Tagen und Stunden des Krieges zum Opfer zu fallen. Der Aufbruch in die Zukunft konnte beginnen. Aber in weiten Teilen Österreichs war der Nationalsozialismus noch an der Macht. Tausende Menschen sollten dem NS-Terror noch in den letzten Kriegstagen zum Opfer fallen.

Politische Häftlinge auf der Todesliste

Gauleiter Eigruber etwa ließ Ende April im KZ Mauthausen alle oberösterreichischen politischen Häftlinge in der Gaskammer ermorden, denn dem neuen Staat sollten keine „aufbauwilligen Kräfte“ überlassen werden. Das war der letzte Einsatz der Gaskammer von Mauthausen, die unmittelbar danach abgebaut wurde, um die Spuren des Massenmordes zu verwischen. Auch in Graz wurden in den letzten Kriegswochen politische Häftlinge aufgrund einer von Gauleiter Uiberreither erstellten Todesliste ermordet.

Konzentrationslager Mauthausen
APA/HARALD SCHNEIDER
Das ehemalige Konzentrationslager Mauthausen

Mordaktionen an Regimegegnern, untergetauchten Jüdinnen und Juden, an Menschen, die sinnlose Kampfhandlungen und Zerstörungen verhindern wollten, prägten die letzten Wochen der nationalsozialistischen Herrschaft. Hunderte Wehrmachtssoldaten wurden als Deserteure hingerichtet und ihre Leichname oft zur Einschüchterung und Abschreckung an öffentlichen Plätzen zur Schau gestellt. Allein im Raum Amstetten, einem Knotenpunkt beim Rückzug der Wehrmacht, verzeichnete die Gendarmeriechronik 250 hingerichtete Soldaten.

Todesmärsche von ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern

Die weitaus größte Opfergruppe der Kriegsendphase auf österreichischem Gebiet waren ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, die seit Herbst 1944 beim Bau des sogenannten Südostwalls an der ungarischen Grenze eingesetzt waren. Die Befestigungsanlagen und Panzergräben, die den Vormarsch der Roten Armee aufhalten sollten, erwiesen sich als völlig nutzlos. Mit dem Heranrücken der Roten Armee begannen die Evakuierungsmärsche. Menschen, die nicht arbeits- oder marschfähig waren, wurden ermordet.

Beim Kreuzstadel im burgenländischen Rechnitz erschossen lokale Täter mehr als 180 Menschen. Ab Ende März 1945 wurden bis zu 40.000 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter durch das Burgenland, die Steiermark, Nieder- und Oberösterreich in Richtung des Konzentrationslagers Mauthausen getrieben. Vor den Augen der Bevölkerung durchquerten Züge mit Tausenden hungernden, elenden Menschen das Land. In unzähligen Orten entlang der Marschrouten, die die Historikerin Eleonore Lappin-Eppel rekonstruiert hat, wurden Menschen erschlagen, erschossen, starben an Hunger und Erschöpfung. Oft wurden lokale Wachmannschaften, Volkssturmmänner, Hitlerjungen zu Tätern. Einheimische haben aber auch geholfen, Flüchtende versteckt oder versucht, den ausgehungerten Menschen Essen zuzustecken.

23.000 jüdische Opfer

Eines der größten Massaker mit über 200 Toten fand am obersteirischen Präbichl statt, verübt von Eisenerzer Volkssturmmännern. In Hofamt Priel bei Persenbeug drangen Angehörige der Waffen-SS in der Nacht auf den 3. Mai 1945 in ein Auffanglager ein, das für Menschen, die beim Hauptmarsch zurückgeblieben waren, errichtet worden war, und erschossen mindestens 228 Menschen. Insgesamt 23.000 ungarische Jüdinnen und Juden verloren in diesen Todesmärschen auf dem Gebiet des heutigen Österreich in den letzten Kriegswochen ihr Leben.

Eingang zum Konzentrationslager Mauthausen im Juli 1945
AP/Lynn Heinzerling
Eingang zum Konzentrationslager Mauthausen im Juli 1945

Zielort der Todesmärsche war das KZ Mauthausen – eines der letzten noch nicht befreiten Konzentrationslager im Deutschen Reich. Mitte April war das KZ Mauthausen jedoch bereits völlig überfüllt. Die erschöpften, ausgezehrten Menschen, die bereits Hunderte Kilometer zu Fuß zurückgelegt hatten, wurden weiter in das Lager Gunskirchen bei Wels getrieben.

Im Lager Gunskirchen wurden rund 18.000 Menschen auf engstem Raum und ohne ausreichende Versorgung zusammengepfercht. Die Häftlinge wurden von den Wachmannschaften drangsaliert und wegen geringfügiger Verstöße ermordet – etwa wenn sie nachts die Latrine aufsuchten. Für jeden erfolgreichen Flüchtling wurden zur Abschreckung zehn Lagerinsassen erschossen.

US-Soldaten befreien Mauthausen

Am 4. Mai befreiten amerikanische Truppen das Lager Gunskirchen, einen Tag später das KZ Mauthausen, das größte Konzentrationslager im Gebiet des heutigen Österreich. Von August 1938 bis zur Befreiung 1945 befanden sich im KZ Mauthausen und seinen insgesamt 48 Außenlagern rund 205.000 Häftlinge, die Hälfte von ihnen wurde ermordet oder ging an den unmenschlichen Haftbedingungen zugrunde. Das KZ Mauthausen hatte die höchste Todesrate unter den Konzentrationslagern im Deutschen Reich.

Jährlich gedenken Tausende Menschen bei der Befreiungsfeier in der Gedenkstätte Mauthausen der Opfer des Konzentrationslagers. Seit 1997 ist der 5. Mai, der Tag der Befreiung von Mauthausen, österreichischer Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus.