Oliver Rathkolb mit Monika Sommer
ORF.at/Christian Öser
ORF.at/Christian Öser
Zeitgeschichte

Rathkolb zum Mythos Österreich anno 1945

Als „bemerkenswert“ bezeichnet der Zeithistoriker Oliver Rathkolb den Weg, den die österreichische Identität seit 1945 genommen hat. Zur „Stunde null“ 1945 sei die Konzeption von Österreich etwa bei Karl Renner bestenfalls pragmatisch ausgerichtet gewesen.

Dass sich ein eigenständiger Weg Österreichs als Nation entwickeln konnte, sei nicht zuletzt auf staatspolitische Erwägungen der Sowjets zurückzuführen – daran erinnert auch Rathkolb, der die Geburtsstunde der Zweiten Republik dennoch gerne vordatieren würde, wie er im Interview verrät.

ORF.at: Sind Sie als Historiker nicht selbst mitunter erstaunt, wie aus der Österreich-Skepsis der Ersten Republik der Hurrapatriotismus nach 1945 entstehen konnte?

Oliver Rathkolb: Aus dieser historischen Sicht ist es wirklich überraschend, dass man heute eigentlich sagen muss, dass der Österreich-Patriotismus fast schon überbordend geworden ist. Wenn ich daran denke, dass es aus 1956 Umfragen gab, wo 60 Prozent der befragten österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sich eigentlich kulturell als Deutsche fühlten, und dass es dann doch gelungen ist, ab ungefähr Mitte der 1960er Jahre diese Verbindung herzustellen zwischen sozialem, ökonomischem, politischem Fortschritt, Aufstieg und einer kleinösterreichischen Identität. Insofern ist das, würde ich sagen, heute schon überraschend. Wenn man die Wahlkämpfe der letzten zehn bis zwanzig Jahre analysiert, hat man schon manchmal das Gefühl, dass man nicht mehr weiß, wohin schauen vor lauter Österreich-Fahnen. Diese Identität ist umso bemerkenswerter, bedenkt man, dass gerade die Turboglobalisierung in der Coronavirus-Pandemie ihre negativen Auswirkungen uns sehr deutlich vor Augen führt. Und die Österreich-Identität ist gleichzeitig ja so eng und stark geworden, dass sich die Österreicher mit der Europäischen Union und der europäischen Identität schwertun. Europa ist eigentlich etwas Pragmatisches, es ist gut für den Handel, gut für den Tourismus, aber der Weg nach Europa ist noch ein sehr, sehr langer.

Zeithistoriker Oliver Rathkolb (Uni Wien)
APA/HELMUT FOHRINGER

Oliver Rathkolb ist Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Wien

Welches Bewusstsein oder Gefühl von Österreich gab es an diesem 27. April 1945?

Rathkolb: Gehen wir es anhand der Parteien, die damals unterschrieben haben, durch: Ich fange mit der Partei an, die sich seit Ende der 30er Jahre und dann ganz stark und sehr früh hinter eine kleinösterreichische Konstruktion gestellt hat, nämlich die KPÖ. Die ist da schon sehr stark unterwegs und interessanterweise auch die Sowjetunion. Aber die Sowjetunion hat ein einfaches strategisches Ziel: Die Schwächung Deutschlands nach 1945, und eine der Maßnahmen zur Schwächung Deutschlands ist einfach, dieses kleine, aber inzwischen doch in der NS-Zeit sehr industrialisierte und hochgerüstete Österreich einfach herausnehmen und in die Selbstständigkeit zu tragen. Das erklärt ja die Akzeptanz der Opferdoktrin der ersten österreichischen Regierung Karl Renners, die in der Unabhängigkeitsproklamation der provisorischen Staatsregierung enthalten ist. Es ist also eine reine geostrategisch-pragmatische Lösung, inhaltlich getragen auch von der KPÖ.

Bei der Sozialdemokratie ist es schon schwieriger, was man an frühen Reden und Aufzeichnungen von Renner selbst nach der Befreiung 1945 merkt, da gibt es so was wie einen österreichischen, opportunistischen, funktionalen Österreich-Patriotismus, in dem Sinn, dass es besser ist, sich jetzt als Kleinösterreicher zu bekennen als als Deutscher, um nicht für den Krieg verantwortlich gemacht zu werden, Reparationen zu zahlen etc. Aber man merkt so in den ersten Reden von Renner vor den Beamten im teilweise zerstörten Ballhausplatz, er windet sich nach wie vor in seinen großdeutschen Ideen, in denen er aufgewachsen ist. Renner kommt zu einem sehr pragmatischen Österreich-Begriff, der aber wenig mit Inhalt gefüllt ist, außer dass wir sind nicht das Preußische sind, nicht das am Krieg verantwortliche Deutschland. Der zentrale Ideologe dieser Österreich-Ideologie in Abgrenzung von den bösen Deutschen ist ja interessanterweise Ernst Fischer. Fischer, der frühere Sozialdemokrat und spätere Kommunist, hat ja im Exil die Broschüre über den österreichischen Volksscharakter geschrieben, und an diesem Punkt komme ich gleich zu der nächsten Partei, zur ÖVP, die ja 1945 eigentlich eine Neugründung ist. Die ÖVP ist total hin und weg und begeistert über Fischer. „Furche“-Gründer Friedrich Funder, vor 1938 lange Zeit Chefredakteur der christlich-sozialen „Reichspost“, schreibt in Briefen richtige Elogen auf Fischer und dessen Versuche, aus dem Dollfuß-Schuschnigg-Regime den „besseren Deutschen“ und damit den besseren Österreicher zu konstruieren.

Die Sozialdemokratie hat sehr spät zur Österreich-Idee gefunden, und noch im Exil der Sozialdemokraten in den USA und in Großbritannien dominieren die Anschlussideen an ein demokratisches Deutschland. Und wäre der militärische Widerstandsversuch im Juli 1944 geglückt, darüber muss man sich im Klaren sein, wäre der Anschluss nicht aufgehoben worden. Das muss man sich klar sein, die gehen also nach wie vor von einem größeren Deutschland aus. Es sind kleine Exilorganisationen wie die österreichischen Sozialisten um Bruno Kreisky in Schweden, die sehr stark auf ein eigenes Österreich drängen. Der Durchbruch ist sicher die Moskauer Deklaration vom 1. November 1943: Damit hat man etwas zum Sich-Anhalten, das ist pragmatisch gefüllt, hat zwar diese Mitverantwortungsklausel, aber die Möglichkeit, eine andere Behandlung als das Deutsche Reich zu bekommen. Ab diesem Zeitpunkt kippen die Exilorganisationen abseits der kommunistischen, die das ja immer schon sehr stark vertreten haben, in Richtung der Forderung einer Wiederherstellung eines Kleinstaates Österreich in den Grenzen vor 1938, ohne sich festzulegen, in welcher Verfassung. Primär geht es darum, die Trennung von Deutschland dann durchzuziehen.

Da hat die Moskauer Deklaration und haben die Alliierten schon einen wichtigen Anteil. Wobei die Alliierten mit der Idee gespielt haben, mit dieser Erklärung auch großen Breitenwiderstand zu initiieren. Das ist aber nicht passiert. Das muss man sich auch vor Augen halten, trotz vieler, zahlreicher, furchtbar blutiger und missglückter alliierter Operationen, etwa mit Fallschirmspringern. Die meisten dieser Aktionen sind schiefgegangen. Und viele sind auch wegen Denunziation durch die lokale Bevölkerung gescheitert. Eine breite Österreich-Idee, die sich sozusagen als eine Art emotionale Basis für großen Widerstand geeignet hätte, gibt es nicht. Die Österreich-Idee ist etwas Pragmatisches; es zahlt sich einfach langfristig politisch besser aus, das merkt man auch in den Kriegsgefangenenlagern. Und diese Idee speist sich aus der These „Wir sind nicht Preußen“. Die Inhalte sind sehr diffus, sind sehr rückwärtsgewandt. Wenn man heute Ernst Fischer liest, glaubt man, man hat eine Broschüre der Vaterländischen Front Kurt Schuschniggs vor sich. Es ist doch ein langer Weg zu einer mehr mit Inhalt gefüllten Österreich-Ideologie.

Ein Panzer im Wiener Prater 1945: Der Fotograf inszeniert hier die Gleichzeitigkeit von Gewalt und Alltag. Die Kinder neben dem Panzer sind aber auch Symbole für die Überwindung des Kriegs und den Neubeginn.
Otto Croy, Prater, Wien, 1945, ÖNB, Bildarchiv und Grafiksammlung
Ein Panzer im Wiener Prater 1945: Der Fotograf inszeniert hier die Gleichzeitigkeit von Gewalt und Alltag. Die Kinder neben dem Panzer sind aber auch Symbole für die Überwindung des Kriegs und den Neubeginn.

Der Kommunist Alfred Klahr sprach sich ja bereits 1937 für eine „österreichische Nation“ aus, konnte sich sogar eine Allianz mit Schuschnigg gegen die Deutschen vorstellen.

Rathkolb: Bei dieser berühmten Volksbefragung von Schuschnigg gab es ja einen wirklichen Last-Minute-Schulterschluss, wenige Tage, wenn man es so will, Demokratie quer durch alle Fraktionen, da sind die Kommunisten wie Klahr genauso gelaufen wie der Kommunist und spätere Justizminister der SPÖ Christian Broda. Aber auch Kreisky, ein revolutionärer Sozialist, hat plötzlich mit der Staatspolizei verhandelt. Da ging es nur darum, nicht Teil der deutschen, nationalistischen Einflusssphäre zu werden. Das sollte man nicht unterschätzen. Das war eine sehr breite Stimmung. Deshalb hat ja Adolf Hitler völlig hysterisch und aggressiv sofort auch militärisch reagiert, und Schuschnigg ist dann nicht untypisch für seine Persönlichkeit sofort in die Knie gegangen. Für mich beginnt ja die Zweite Republik nicht am 27. April 45, sondern in den wenigen Tagen, nachdem bekannt war, dass es eine Volksbefragung im März 1938 und eine Art breiten ideologischen Schulterschluss gibt. Das ist für mich eigentlich der Beginn der Zweiten Republik, der durch den Rücktritt Schuschniggs, die Absage der Volksbefragung und die deutsche Invasion zerschlagen wird. Und so entsteht die Republik dann sozusagen auf den blutigen Überresten des nationalsozialistischen Deutschland am 27. April 1945 wieder.

Wie sieht es denn um die Positionen der Westalliierten vor 1945 aus? Es gab ja von Winston Churchill die Idee einer Donauföderation.

Rathkolb: Diese Churchill-Idee einer Donauföderation hat auch wieder rein strategische Gründe. Er ist ja der Alliierte, viel mehr als US-Präsident Franklin D. Roosevelt, der ganz früh den Kalten Krieg vorausahnt und versucht, strategische Betonpfeiler, Abwehrpfeiler in Europa zu verteilen, um die Sowjetunion auf Distanz zu halten, und dazu gehört diese katholische, eher konservative Donauföderation zwischen Österreich und Ungarn, mit Teilen Süddeutschlands, Bayern vor allem. Da ist Josef Stalin in Moskau an die Decke gesprungen und hat das ganz massiv von sich gewiesen, weil er natürlich genau erkannt hat, was das Ziel ist. Die Amerikaner um Roosevelt waren auch nicht sehr begeistert. Die haben überhaupt sich sehr lange für diesen zentraleuropäischen Raum überhaupt nicht interessiert.

Mehr noch als die Briten sind sie eine Zeit auf die Idee des „Austrian Battalions“ abgefahren, einer Armee unter der Führung von habsburgischen Erzherzögen, oder was immer man da möchte. Otto Habsburg war auch mehrmals im Umfeld und dann auch persönlich bei Präsident Roosevelt. Das hat ihnen ganz gut gefallen, diese Aura von einem jungen Kaiser, „Otto of Austria“, der da vielleicht für Ordnung sorgen könnte. Aber unterschiedliche ethnische Gruppierungen in den USA mit Wurzeln in Italien und den Nachfolgestaaten der Habsburger-Monarchie haben das sehr schnell vom Tisch gewischt. Die Amerikaner sammeln sich dann in der Moskauer Erklärung hinter den anderen Alliierten, wobei die treibende Kraft interessanterweise Großbritannien ist. Die Sowjets sehen darin auch die Möglichkeit, ihre Vermögensansprüche über die Mitverantwortungsklausel festzuhalten. Die Amerikaner geben einfach ihren Sanctus und beginnen sich langsam dann 1944 etwas konkreter mit diesem neuen Österreich zu beschäftigen.

Kann man sagen, dass die Westalliierten gegenüber der Roten Armee in Österreich einfach zu spät gekommen sind, um einen anderen Lauf der Dinge zu gestalten?

Rathkolb: Jetzt sage ich etwas sehr Provokantes, und da werden mich viele dafür steinigen: Ich bin mir bewusst über die schrecklichen Vergewaltigungswellen und Plünderungen von betrunkenen Rotarmisten, die dann wirklich wochenlang in Ostösterreich gewütet haben. Aber staatspolitisch ist die Sowjetunion Österreich in einer Weise entgegengekommen wie kein Alliierter im Westen. Ohne jede Debatte über Entschädigung oder Entnazifizierung wird innerhalb weniger Wochen eine provisorische Staatsregierung implementiert.

Die amerikanische und britische Politik war totaler „Shut-down“, also viel ärger als beim Coronavirus, das bedeutet: keine politischen Parteien, nicht einmal zugelassene Widerstandsgruppen, keine Medien – alles wird unter totale militärische, alliierte Kontrolle gestellt, bevor man schaut, wer welchen Einfluss bekommt.

In Deutschland beginnt man ja zuerst auf regionaler Ebene mit eingesetzten Verwaltungen, mit Regionalwahlen, und eben erst 1949 mit einer Gesamtkonzeption. Da war es eigentlich besser, dass die Amerikaner nicht so weit gekommen sind. Man darf auch nicht vergessen – das zeigen auch aktuelle Studien –, dass es leider auch im Umfeld der amerikanischen, britischen, französischen Einheiten Vergewaltigungen, Plünderungen gegeben hat. Also die Soldateska findet man auch bei den Westalliierten, vielleicht nicht in so einem großen Ausmaß. Auch das ist ein unrühmliches und gerne verschwiegenes, kriegshistorisches Kapitel. Aber die Sowjetunion hatte, wenn man so will, für die österreichische Staatswerdung die wesentlich progressiveren Modelle. Denn anders als im Fall von Ungarn, der Tschechoslowakei und auch Jugoslawien ist ihr einziges Kriegsziel in Österreich dieses „Raus aus Deutschland“, einen Kleinstaat etablieren, ein bisschen mit Lebensfähigkeit füllen, alles andere würde sich weisen. Und die Vorstellungen, die viele in Washington und London hatten, dass es nach dem 27. April einen kommunistischen Putsch geben werde und eine kommunistische Staatsregierung, hat sich ja nicht bewahrheitet.

Maria-Theresien-Platz, Wien, 17.8.1945: Mit Kriegsende begann der „Kalte Krieg“ zwischen Westalliierten und der Sowjetunion in den Vordergrund zu treten. Ein solches Bild der Freundschaft zwischen US- und Sowjet-Soldaten betonen das gegenseitige Einvernehmen anstatt der Entfremdung.
United States Information Services (USIS), ÖNB, Bildarchiv und Grafiksammlung
Maria-Theresien-Platz, Wien, 17.8.1945: Mit Kriegsende begann der Kalte Krieg zwischen Westalliierten und der Sowjetunion in den Vordergrund zu treten. Ein solches Bild der Freundschaft zwischen US- und Sowjet-Soldaten betonte das gegenseitige Einvernehmen anstatt der Entfremdung.

Was passiert in den letzten Monaten vor diesem 27. April 1945?

Rathkolb: Nach dem gescheiterten Juli-44-Aufstand gegen Hitler zerschlagen die Nationalsozialisten die letzten Spuren möglicher Widerstandsnetzwerke, und es gibt noch die Idee eines totalen Kriegs in der „Alpenfestung“. Die gesamten Ressourcen der Hochtechnologie der deutschen Rüstung wurden im Raum Zell am See zusammengefasst, was sich sehr nützlich für die Amerikaner erweisen sollte, weil sie dort ihre Raketen- und Radarexperten rekrutieren konnten und diese im Rahmen der berühmten „Operation Paperclip“ unter Umgehung amerikanischer Einwanderungsgesetze gleich in die USA brachten. Das Ende der „Alpenfestung“ bringt also einen amerikanischen Technologietransfer.

Sonst gibt es in der Endphase oft vergessene Geschichten, etwa jene des bekannten Historikers Wilhelm Höttl, eines alten illegalen Nationalsozialisten, SS-Manns, Mitglieds des Reichsicherheitshauptamtes, der aber selbst den Nazis zu dubios war. Höttl versucht zu Kriegsende, auch mit Unterstützung von Ernst Kaltenbrunner Kontakt mit dem amerikanischen Geheimdienst in der Schweiz und Allen Dulles aufzunehmen. Den Westalliierten will er so etwas wie eine österreichische antisowjetische, antikommunistische Regierung verkaufen – mit ehemaligen Nationalsozialisten; aber es tauchen in den Plänen auch Namen wie jene von Julius Raab und anderen auf. Allerdings scheitert das am Desinteresse der Amerikaner. Zudem gibt es in den letzten Kriegswochen einige erfolgreiche Widerstandsaktivitäten in Westösterreich. Innsbruck beispielsweise ist schon vor dem Eintreten der Amerikaner befreit. In vielen anderen Teilen gibt es einen Kampf bis zur letzten Patrone mit unglaublichen Kriegsverbrechen gegen Kriegsende: die verschleppten ungarischen Juden in Ostösterreich, das Massaker in Stein und vieles mehr. Es dominieren brutalste Gewalt und Gesetzeslosigkeit. Der Widerstand ist sehr regional verteilt, limitiert und militärstrategisch selbst bei der Befreiung von Wien durch die Rote Armee nur marginal am Rande wirklich involviert.

In Westösterreich ziehen Briten und Amerikaner sehr schnell ihre „Shut-down“-Politik durch, setzen Landesregierungen ein. Zeitungen und Medien werden verboten. Erst als man realisiert, dass in Ostösterreich ein anderer Kurs gefahren wird mit einer Altparteienzeitung, dem „Neuen Österreich“, neben der Besatzungszeitung „Österreichische Zeitung“, mit einem eigenen Rundfunksender, wo es nur eine kleine russische Stunde gibt, beginnen sie dann in den Monaten danach bis zu den Salzburger Festspielen im August 1945, eine andere Politik zu führen. Mit den Länderkonferenzen führen die unglaublich frühen November-Wahlen zu einem ungeplanten, schnellen, demokratischen Wiederbeginn im selbstständigen Österreich unter alliierter Verwaltung, die aber trotzdem die ersten freien Nationalratswahlen seit 1930 – d. h. nach 15 Jahren! – garantiert. Und das ist, das muss man noch einmal sagen, auf die sowjetische Politik zurückzuführen.

1938 – 1948 Wahlplakat der Österreichischen Volkspartei
ÖNB

Das ÖVP-Wahlplakat von 1949

Ich verwette jedes Buch, das mir gehört, dass das unter der amerikanischen und britischen Politik nie so früh der Fall gewesen wäre. Das ist ja auch einer der Gründe gewesen, dass wir einen vergessenen Nationalfeiertag gehabt haben, den Befreiungstag vom 13. April 1945, eben durchaus in der staatspolitischen Verantwortung, dass es die Befreiung Wiens war und die Zerschlagung der verbliebenen Wehrmachts- und SS-Einheiten, die die Befreiung Österreichs eingeleitet haben, übrigens auch die Erklärung vom 27. April. Dieser Befreiungstag ist schon anfangs in Westösterreich nur unwillig gefeiert worden; in Ostösterreich noch am Anfang von allen Alliierten und auch österreichischen Politikern; doch dann verschwindet er im Kalten Krieg Ende Anfang der 50er Jahre im Dunkel der Geschichte.

Der Begriff der Befreiung ist ja lange ein Begriff, den kein österreichischer Politiker oder Schulbuchautor oder sogar Historikerinnen und Historiker in den Mund nimmt, es ist der Begriff Besatzung. Ein Plakat der ÖVP vor den Wahlen 1949 zeichnet symbolisch eine Linie der Besatzung, die von 1938 bis 1948 reicht. Das ist auch ein sehr schönes Symbol für diese lange Kontinuität des Denkens „Wir sind unschuldig“. Zuerst besetzt von den bösen preußischen Nationalsozialisten und dann von den genauso bösen Alliierten. Die Opferdoktrin springt einem wirklich durch dieses Bild entgegen.