Ein kranker Mann liegt im Bett und misst Fieber.
APA/dpa/Andreas Gebert
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Covid-19

„Nur“ eine Grippewelle?

Wer Covid-19 mit der Grippe vergleicht, gerät dieser Tage schnell unter Verharmlosungsverdacht. Der Vergleich ist auch unter Wissenschaftlern umstritten – einig sind sie zumindest in diesem Punkt: Harmlos sind beide Krankheiten nicht.

Die Ausgangssperre ist abgelaufen, seit 1. Mai gilt die „Corona-Lockerungsverordnung“, die zumindest eine teilweise Rückkehr zur Normalität verspricht – und noch immer sind so viele Fragen offen: War der Lock-down alternativlos? Oder hätte man einen Kollaps des Gesundheitssystems auch mit milderen Maßnahmen verhindern können? Wie gefährlich ist das Coronavirus nun wirklich? Der US-amerikanische Epidemiologe John Ioannidis fasste eine serologische Studie an 1.300 Menschen aus dem Bezirk Santa Clara, Kalifornien, so zusammen: „Unsere Daten legen nahe, dass die Infektionssterblichkeit von Covid-19 im Bereich der saisonalen Grippe liegt.“

Der deutsche Virologe Christian Drosten indes betonte kürzlich in einem ZIB-2-Interview, dass es sich bei Covid-19 keinesfalls um eine neuartige Grippe handle, sondern um eine Krankheit, die „20 bis 30 Mal“ gefährlicher sei. Wenn schon die Experten uneins sind in ihrer Beurteilung, wie sollen sich dann die Normalbürger, Journalisten inklusive, ein Bild von der Lage machen? Aufklärung tut Not.

Zu diesem Zweck hat science.ORF.at vier Fachleute aus den Bereichen Epidemiologie, Infektionsmedizin und Biostatistik kontaktiert – und ihnen die Gretchenfrage gestellt: Ist Covid-19 mit der Grippe vergleichbar? Die Antworten fielen höchst unterschiedlich aus. Sie reichen von „Der Vergleich ist notwendig und erhellend“ bis hin zu „Die Dunkelziffern sind unbekannt, ein Vergleich erübrigt sich.“ Das liegt auch daran, dass man die Frage eigentlich spezifischer stellen müsste. „Gefährlichkeit“ ist ein dehnbarer Begriff, es gäbe zwar entsprechende Maßzahlen, doch die sind nach wie vor mit enormen Unsicherheiten behaftet. Ioannidis und Drosten befinden sich mit ihren Aussagen innerhalb der Bandbreite des statistisch Möglichen. Die Sehnsucht nach einer einfachen Antwort bleibt bis auf weiteres unerfüllt.

“Wir müssen diese Diskussion führen“

„Was mich an der Debatte bisher gestört hat, ist, dass man Grippe und Covid-19 gar nicht vergleichen durfte. Das halte ich für falsch. Wir müssen diese Diskussion führen“, sagt Robert Krause von der MedUni Graz. Dass man mit dem Vergleich unter den Verdacht der Verharmlosung geraten würde, kann der Infektionsmediziner nicht nachvollziehen. Er dreht den Spieß um: Wenn schon, dann habe man bisher die Grippe verharmlost.

Unsichere Maßzahlen

Die aktuelle Fallsterblichkeit (Tote pro bestätigte Erkrankungen) von Covid-19 liegt gegenwärtig zwischen 0,7% in Saudi-Arabien und 15,7% Prozent in Belgien. Diese Maßzahl ist aus mehreren Gründen mit Vorsicht zu genießen: Erstens wird sie zu Beginn einer Pandemie meist überschätzt, zweitens ist sie stark von der Zählweise der Toten abhängig (daher etwa die hohen Werte in Belgien) und drittens erfasst sie nicht die Dunkelziffer von Erkrankten. Die Fallsterblichkeit ist definitionsgemäß höher als die tatsächliche Letalität.

Letztere versucht man durch die Infektionssterblichkeit abzuschätzen. Hier wird auch die Dunkelziffer von Erkrankten berücksichtigt – dies allerdings mit statistischen Unschärfen.

Bei der Grippe wird in Österreich nur die absolute Zahl der Todesfälle (Mortalität) errechnet. Die Basis dafür liefern die statistische Übersterblichkeit sowie systematische Stichproben aus Arztpraxen und Kliniken.

Das Argument ist nicht von der Hand zu weisen. Jedes Jahr sterben in Österreich 2.000 bis 4.000 Menschen an Influenzainfektionen, obwohl es dagegen eine Impfung gäbe. Doch von der machen nicht einmal 10 Prozent der Bevölkerung Gebrauch. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusehen, dass eine Impfung gegen Covid-19 auf größere Akzeptanz in der Bevölkerung stoßen würde – obwohl beide Krankheiten Ähnlichkeiten aufweisen. Auch, was die Gefährlichkeit anlangt.

An dieser Stelle ist eine Präzisierung nötig: Todesfälle werden in der Epidemiologie üblicherweise in Form der Infektionssterblichkeit sowie der Fallsterblichkeit angegeben (siehe Infobox links). Der Wert beider Größen lässt sich laut Krause „nicht seriös bestimmen“, möglich sei eine quantitative Gegenüberstellung allenfalls in einer überschaubaren Patientengruppe, wo die Dunkelziffer zu keinen Verzerrungen führt. „Bei Patienten an Intensivstationen halte ich einen Vergleich von Grippe und Covid-19 sinnvoll“, sagt Krause. „Nach meinen bisherigen Erfahrungen liegt die Sterblichkeit in Intensivstationen bei beiden Krankheiten im gleichen Bereich, nämlich zwischen 20 und 40 Prozent. Influenza ist eine gefährliche Infektionskrankheit, wir müssten viel mehr tun, um die Akzeptanz der Grippeimpfung zu erhöhen.“

Daraus folge freilich nicht, dass Covid-19 harmlos sei, betont der Infektionsmediziner. Im Gegenteil: Die Wachstumsdynamik des Erregers sei enorm und hätte einen Kollaps des Gesundheitssystems auslösen können. „Deshalb begrüße ich die Maßnahmen gegen die Covid-19-Epidemie. Der Lock-down war notwendig.“

Was Corona von der Grippe unterscheidet

Der Informatiker und Biostatistiker Bernhard Pfeifer erstellt für die Tiroler Kliniken Modelle, mit deren Hilfe er die Auslastung von Krankenhausbetten vorhersagt. Vergleiche zwischen Grippe und Covid-19 hält auch er für zulässig, betont aber: „Die Grippe ist nicht so gut erforscht, wie man meinen sollte. Was die Sterblichkeit anlangt, gibt es viele Unsicherheiten.“ Erhellend sei die Gegenüberstellung insofern, als dadurch die Besonderheit von Covid-19 sichtbar werde. Das sind aus Sicht des Modellforschers drei Eigenschaften: Gegen Covid-19 gibt es keine Impfung, der Erreger SARS-CoV-2 ist so gut wie für jeden und jede ansteckend – und vermehrt sich außerdem rasant.

Krankenbett: Infektionsabteilung im Kaiser-Franz-Josef-Spital
APA/HELMUT FOHRINGER

Das Maß für die Vermehrung das Coronavirus, R0 genannt, war bis vor Kurzem nur in einschlägigen Fachpublikationen von Belang. Seit die Pandemie in Europa angekommen ist, wird diese Größe erstmals auch in den ganz normalen Medien diskutiert. Sie hat bei der Grippe einen Wert von 1,5 – das heißt: Jeder Grippeinfizierte steckt im Schnitt 1,5 weitere Personen an. „Bei Covid-19 ist R0 doppelt so hoch. Die Erkrankungszahlen steigen extrem an, wenn man nichts dagegen unternimmt.“

Das lasse sich etwa an den jüngst von der Statistik Austria veröffentlichen Todesstatistiken in Österreich ablesen. „Die Daten zeigen ab der Kalenderwoche 12 einen signifikanten Anstieg um ca. 16 Prozent, das ist jener Zeitpunkt, ab dem die Covid-Todesfälle in der Statistik sichtbar wurden.“ Dass die Zunahme auf das Konto der Lungenerkrankung Covid-19 gehe, sei somit naheliegend, sagt Pfeifer.

Bewiesen ist es gleichwohl nicht, die Statistiken ließen auch andere Interpretationen zu. „Diese Daten lassen sich erst erhärten, wenn man auf die gesammelte Jahresstatistik in Bezug auf die Todesfälle zurückgreifen kann“, so Pfeifer.

Hat die Coronavirus-Krise die Todesfälle indirekt erhöht, etwa, weil sich die Menschen nicht mehr getrauen, zum Arzt zu gehen? Oder deswegen, weil Operationen verschoben und die Pflegekapazitäten in Krankenhäusern knapp wurden?

Ein Todesfall: Ursache unbekannt

Der Wiener Physiker Karl Svozil, Autor eines ORF-Gastkommentars zur Coronavirus-Krise, hat so etwas jüngst in seinem Verwandtenkreis erlebt. „Der Mann meiner Cousine, er ist 95 Jahre alt, hatte das Pech, dass er sich Anfang März das Bein brach, als er nachts auf das WC ging“, erzählt Svozil. „Das Zamser Krankenhaus operierte ihn komplikationslos und entließ ihn drei Tage früher als geplant. Nach mehreren Interventionsversuchen meiner Cousine, intensive Hilfe zu bekommen, die allesamt nur wenig nutzten, verstarb ihr Mann zu Hause. Natürlich könnte man jetzt sagen: Er wäre so oder so verstorben. Möglicherweise hat er sich auch im Krankenhaus mit Corona angesteckt, wir wissen es nicht.“

Der Fall wird sich nicht mehr aufklären lassen. Sicher ist nur: Hinter der statistisch feststellbaren Übersterblichkeit können sich viele Effekte verbergen. Nicht überall, wo ein quantitatives Maß vorliegt, ist automatisch Eindeutigkeit gegeben.

Das ist ein Punkt, den auch Ralf Reintjes von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg für wichtig hält. Auf die Frage, ob Grippe und Covid-19 vergleichbar seien, antwortet er: „Das ist ein Vergleich von Äpfeln und Bananen. Wenn man die beiden Krankheiten vergleichen wollte, dann müsste man das ganz spezifisch tun. Man müsste einen der vielen Grippeerreger aus einer bestimmten Saison herausgreifen und ihn dann SARS-CoV-2 gegenüberstellen. Diese Mühe macht sich niemand.“ Davon abgesehen könne man auf diesem Weg keine Dunkelziffer Erkrankter festmachen, Maßzahlen wie Fall- und Infektionssterblichkeit hält der deutsche Epidemiologe daher für wenig aussagekräftig. Er plädiert dafür, sich über ein anderes Thema Gedanken zu machen: die Ausgangssperren in Österreich und Deutschland, die Schließung von Geschäften, Kindergärten, Schulen, Universitäten.

Schulschließung: Klassenzimmer ohne Schülerinnen und Schüler
APA/HARALD SCHNEIDER

„Beim Lock-down wurden alle Maßnahmen gleichzeitig gesetzt. Aber nicht auf der Basis von Wissen. Sind Kindergärten wirklich Epizentren der Übertragung? Bei Influenza wissen wir es – aber bei Covid wissen wir es nicht.“ Den Einwand, dass für entsprechende Studien die Zeit zu knapp gewesen wäre, lässt Reintjes nicht gelten. „Innerhalb eines Monats wäre das sehr wohl zu machen gewesen, ich kenne genügend Beispiele aus der Fachliteratur, wo das der Fall war. Aber es ist noch nicht zu spät. Das Thema wird uns auch noch bei der zweiten Erkrankungswelle beschäftigen.“

„Corona ist angstbesetzt“

Vergleiche zwischen Grippe und Covid-19 hält auch Influenza-Expertin Daniela Schmid, Leiterin der Abteilung für Infektionsepidemiologie der österreichischen Agentur für Ernährungssicherheit, für wenig sinnvoll. Und zwar aus „methodischen Gründen“. Die Bestimmung von Erkrankungen und Todeszahlen sei in beiden Fällen so unterschiedlich, dass sich eine Gegenüberstellung verbiete.

Auffällig sei jedenfalls der unterschiedliche Umgang mit beiden Krankheiten. „Bei der Grippe gäbe es die Möglichkeit, die Mortalität durch Impfungen drastisch zu senken. Viele Menschen fragen immer noch: Warum sollte ich mich impfen lassen? Sie erkennen die Notwendigkeit nicht, es gibt keine Aufklärung. Ich sehe das sehr kritisch. Bei Covid-19 haben wir es wiederum mit einer emotionalen Überschätzung zu tun, die Krankheit ist angstbesetzt.“

Ein kürzlich Ö1 zugespieltes Dokument legt nahe, dass die emotionale Überschätzung der Krankheit (und somit die Entsachlichung der Debatte über ebenjene) von der Regierung geduldet wurde. Wenn nicht gar erwünscht. In dem Sitzungsprotokoll vom 12. März heißt es: „[Bundeskanzler] Kurz verdeutlicht, dass die Menschen vor einer Ansteckung Angst haben sollen bzw. Angst davor, dass Eltern/Großeltern sterben.“ Ein Sprecher des Bundeskanzlers sagte nach Publikwerden der Notizen, Kurz habe lediglich Verständnis für die Angst um Familienmitglieder gezeigt.