Mann mit einem ab dem rechten Knie amputierten Bein sitzt auf dem Sofa
Hector – stock.adobe.com
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Hirnforschung

Wenn der Kopf den Körper ablehnt

Sie verletzen ihr Bein oder versuchen es aus Verzweiflung abzusägen: Weltweit träumen einige tausend Menschen davon, gesunde Gliedmaßen amputieren zu lassen. Was die gestörte Körperwahrnehmung bedingt, war bis jetzt unklar – jetzt gibt es erste Hinweise.

Es hört sich absurd an, für die Betroffenen ist es aber eine schwere psychische Belastung: Sie fühlen sich fremd im eigenen Körper, können sich mit Teilen davon absolut nicht identifizieren. Body Integrity Identity Disorder (BIID) heißt die Störung, bei der sich Menschen wünschen, dass ein Arm, ein Bein oder alle Gliedmaßen verschwinden, weil sie sich fremd anfühlen, wie störende Anhängsel des Körpers. Gefühle, die sich im Gehirn der Betroffenen widerspiegeln, wie eine Schweizer Studie zeigt, die soeben in „Current Biology“ erschienen ist.

Entscheidende Hirnregion ist weniger vernetzt

Um die störenden Gliedmaßen loszuwerden, binden Menschen mit BIID Arm oder Bein ab, verletzen sich oder versuchen, Mediziner zu finden, die die Gliedmaßen illegal amputieren. Denn gesunde Körperteile chirurgisch zu entfernen, ist in Ländern wie Österreich nicht gestattet. Fast alle Betroffenen leiden vor einer Amputation an schweren Depressionen. Die Forschung zu BIID ist jung, lange vermutete man einen sexuellen Zusammenhang. Denn immerhin 75 Prozent der Betroffenen erregt die Vorstellung der Amputation sexuell.

Die Studie:

„Neural correlates of Body Integrity Dysphoria“ von Saetta et al. ist am 7.5. in Current Biology erschienen.

Doch die Ursache dürfte laut Gianluca Saetta, dem Erstautor der Studie, eher im Aufbau der Hirnstruktur liegen. Der Neuropsychologe von der Universität Zürich konnte zeigen, dass der funktionelle Vernetzungsgrad und die Dichte der Grauen Substanz in einer bestimmten Gehirnregion entscheidend sein dürfte, nämlich jener, der für die Körperwahrnehmung zuständig ist. „Im rechten Parietallappen ist verankert, wie unser Körper aussehen sollte, also die Repräsentation unserer Körperbildes“, so Saetta in einer Presseaussendung.

16 Probanden mit Amputationswunsch

Saetta und seine Kollegen fanden heraus, dass die Graue Masse hier entscheidend ist: Je weniger Graue Substanz im rechten Parietallappen vorhanden ist, desto größer der Wunsch nach einer Amputation der Gliedmaßen. Diese Menschen simulierten auch schon mehr als andere Betroffene, dass ein Bein oder Arm bereits amputiert sei bzw. nicht vorhanden, in dem sie in wegbanden und nicht benutzten. „Dieses Verhalten hilft ihnen mit dem Stress zurechtzukommen, den die Diskrepanz zwischen ihrem tatsächlichen Aussehen und dem gewünschten Körperbild auslöst“, so der Neuropsychologe.

Gehirnscan zeigt Parietallapen im menschlichen Gehirn
Sarah Rudorf
Der Parietallappen ist ein Abschnitt des Großhirns

Um die zugrundliegenden neuronalen Mechanismen der BIID zu studieren, untersuchten die Schweizer Wissenschaftler 16 Männer, die ihr linkes Bein amputieren wollten, und 16 gesunde Männer als Kontrollgruppe. Mit einem bildgebenden Verfahren, einer funktionellen Magnetresonanztomographie, wurden die neuronalen Strukturen abgebildet.

Zwei Areale stärker verändert

Die Studie konnte folglich zwei große Unterschiede zwischen den beiden Gruppen aufzeigen: Im rechten Parazentrallappen, wo motorische und sensorische Wahrnehmungen des linken Beins angesiedelt sind, zeigte sich eine geringere Vernetzung zu anderen Teilen des Gehirns. Gleiches beobachteten die Forscher im rechten oberen Parietallappen, auch hier waren der Vernetzungsgrad und die Konzentration der Grauen Substanz niedriger.

Die betroffenen Männer hatten jedoch keinerlei sensorische Einschränkungen, die Fähigkeit ihr linkes Bein zu spüren und zu bewegen, war voll ausgebildet. Für den Co-Autor Peter Brugger zeige das einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Veränderungen der Hirnstruktur und -funktionalität und dem mentalen Zustand der Betroffenen. „Wir können aber nicht sagen, ob die neuronale Charakteristik dem Amputationswunsch herbeiführt oder der jahrelange Wunsch nach Amputation diese Gehirnregionen verändert“, so Brugger.

Dunkelziffer dürfte hoch sein

Es handle sich bei BIID bzw. Body Inegrity Dysphoria (BID), wie die Störung auch bezeichnet wird, zwar um ein seltenes Phänomen, aber die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Sich die Amputation eines gesunden Beines zu wünschen, ist mit großer Scham behaftet. Oft werde das Problem gar nicht diagnostiziert, sagt Brugger. In der nächsten Ausgabe der Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, der ICD 11, soll BIID bzw. BID bereits als Störung körperlicher Not oder körperlicher Wahrnehmung gelistet sein.

Die Studienautoren folgern aus ihren Erkenntnissen, dass Hirnstimulationstechniken, wie die tiefe Hirnstimulation Betroffenen vielleicht helfen könnten. Dabei werden Elektroden ins Gehirn eingebracht und bestimmte Areal mit Reizen stimuliert. Die Autoren wollen ihre Forschung in dem Bereich auf jeden Fall fortsetzen. Es gebe noch viele andere Varianten der BIID, die noch unbekannter seien. Etwa solche, bei denen sich die Betroffenen wünschen, querschnittgelähmt zu sein oder blind.