Straßenszene: Paris im  August 1944
APA/AFP
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Zeitgeschichte

Österreicher in der Resistance

Zahlreiche Österreicherinnen und Österreicher haben ihr Leben in der französischen Resistance riskiert – im Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht und das Kollaborationsregime in Vichy. Der Zeithistoriker Hans Schafranek hat nun die Biografien von hundert dieser Antifaschistinnen und Antifaschisten erforscht. Sein Fazit: Ihr Anteil wurde lange systematisch kleingeredet.

science.ORF.at: Warum haben Sie sich auf die Spuren der Widerstandskämpfer in Frankreich gemacht? Hat eine umfassende Darstellung dieses Teilbereichs des Widerstands – des Travail Allemand (TA) – noch gefehlt?

Travail Allemand

Mit dem in der Widerstandsforschung und in persönlichen Lebenserinnerungen gängigen Begriff „Travail Allemand“ (TA) war und ist ein Teil der organisierten Widerstandstätigkeit von deutschsprachigen KommunistInnen in der französischen und belgischen Resistance gemeint. Diese spezifische Variante des Widerstandes zielte in all ihren Ausprägungen darauf ab, durch Agitation, Propaganda und eine Infiltration deutscher Institutionen die deutsche Kriegsmaschinerie an neuralgischen Punkten empfindlich zu treffen und die „Moral“ deutscher Wehrmachtsangehöriger zu schwächen. (Hans Schafranek)

Ö1 Sendungshinweis:

„Mädelarbeit – Österreicherinnen in der Résistance“: Dimensionen Magazin, 11.5., 19:05 Uhr.

Hans Schafranek: Es gibt, wenn man es einengt auf das Thema TA, doch einige gravierende Forschungsdefizite über den Widerstand in Frankreich. In Österreich ist zwar geforscht worden, aber das ist im Wesentlichen auf dem Forschungsstand von 1984 steckengeblieben. In Frankreich brach eine neue Generation von französischen Historikern, Historikerinnen und überlebenden Akteuren das tradierte patriotische Bild der Resistance („autochthone“ Franzosen als alleinige Träger des Widerstands) auf und erforschte den maßgeblichen Anteil von Migranten, politisch verfolgten Exilanten und – zumeist osteuropäischen – Juden an der Resistance. Hier sind – stellvertretend für andere – etwa die Pionierarbeiten von Stéphane Courtois, Denis Peschanski und Annette Wieviorka zu nennen. Über den TA selbst gibt es explizit nur die Arbeiten des französischen Forschers Claude Collin.

Woran liegt es, dass die lebensgefährliche Arbeit der Österreicher so lange kleingeredet wurde?

Schafranek: Das bezieht sich vor allem auf die DDR-Historiographie, in der sehr viel vertuscht, fehlinterpretiert oder gefälscht wurde. Und auch in einer Reihe von BRD-Publikationen finden wir bis in die jüngste Zeit eine Fortsetzung dieser Sichtweise, bei der Österreicher marginalisiert wurden.

… um die deutschen Kommunisten besser dastehen zu lassen? Welche konkreten Fakten führen Sie denn ins Feld, um zu belegen, dass die Österreicher aktiver waren als bisher angenommen?

Schafranek: Wenn man sich auf den TA konzentriert, dann waren das nach meiner Schätzung in Frankreich 150 bis 170 aktive österreichische Widerstandskämpfer und -kämpferinnen, eine wahrscheinlich etwas kleinere Zahl in Belgien, denn der TA hat sich auch auf beide Länder erstreckt. Von diesen 150 bis 170 aktiven österreichischen kommunistischen Widerstandskämpfern im TA sind fast 100 dem Naziterror zum Opfer gefallen. Im Vergleich dazu steht eine Aussage vom Leiter des deutschen Flügels der TA – Otto Niebergall: Bei den deutschen TA-Aktivisten gab es gerade einmal elf Verhaftungen, vier wurden ermordet.

Ausschnitt des Periodikums „Soldat im Westen“
Bundesarchiv Berlin

Franz Marek war der Leiter des österreichischen Flügels des TA. Über ihn und seine Partnerin Tilly Spiegel sind vor Kurzem Biografien erschienen. Marek übernahm die Redaktion der Untergrundzeitung „Soldat im Westen“ von einem Österreicher. Sie haken hier ein und sehen ein Beispiel für DDR- Geschichtsfälschung?

Schafranek: Gleich für mehrere: Niebergall und in der Folge alle DDR-Autoren schrieben, die erste Folge des „Soldat im Westen“ sei bereits am 22. Juni 1941 erschienen, also am Tag des deutschen Überfalls auf die UdSSR. Tatsächlich habe ich durch einen Fund im Bundesarchiv Berlin herausgefunden, dass die erste Ausgabe Mitte September 1941 erschien (s. Foto Faksimile). Der Österreicher Hans Zipper war der erste Redakteur von „Soldat im Westen“. Zippers Funktion als erster Redakteur wurde in der DDR nicht verschwiegen, aber fälschlicherweise figurierte der deutsche Kommunist Walter Hähnel als sein Nachfolger. Nach Zippers Festnahme übernahm tatsächlich aber Franz Marek die Redaktion, und von Dezember 1941 bis Anfang 1944 schrieb er den größten Teil der jeweils zumeist kurzen Artikel, unterstützt von Antonie Lehr.

Sie schreiben, dass auch die Artikel dieser Ausgaben anfangs sehr österreichlastig waren – auch das ein Beleg für Ihre Aussage. Wie hoch war denn die Auflage?

Schafranek: Die Auflage war unter den Bedingungen schärfster Illegalität unvorstellbar hoch. 60.000 Exemplare! Wenn man das in Vergleich setzt mit dem österreichischen Widerstand, ich habe auch viel dazu geforscht, wie viele Flugblätter oder illegale Zeitungen der Gestapo bekannt wurden (durch Verhöre mit Verhafteten oder Hausdurchsuchungen), dann ist das fast immer eine dreistellige Zahl im unteren Bereich, also 100 bis 200 Exemplare.

Der TA ist organisatorisch gut fassbar, er war in Gruppen hierarchisch gegliedert – an der Basis arbeiteten vor allem junge Mädchen in der sogenannten „Mädelarbeit“.

Schafranek: Der heute natürlich etwas antiquiert anmutende Begriff „Mädelarbeit“ ist eigentlich in Belgien von einer österreichischen Widerstandskämpferin erfunden worden, nämlich von Gundl Steinmetz-Herrnstadt. Die „Mädelarbeit“ war eine der gefährlichsten Unternehmungen überhaupt. Diese Frauen waren unglaublich jung, die meisten um die 20 oder ein bisschen älter. Um diese Arbeit durchführen zu können und nicht sofort aufzufliegen, bedurfte es eines unglaublichen Fingerspitzengefühls und einer ausgeprägten Menschenkenntnis – es musste jede Regung eines Wehrmachtssoldaten interpretiert werden. Sie mussten in einem kurzen Gespräch herausfinden, ob das ein Nazi war, ob er politisch indifferent war, kriegsmüde, unzufrieden oder für vorsichtige antifaschistische Agitation empfänglich.

Was war das Ziel der „Mädelarbeit“?

Schafranek: Das Ziel war, dass die angesprochenen Soldaten illegale Flugschriften unter Gleichgesinnten in den Kasernen verteilen und Soldatenkomitees bilden. Da haben die deutschen Kommunisten nach 1945 unglaubliche Märchen verbreitet und de facto den österreichischen Anteil völlig unterschlagen oder uminterpretiert. Soldatenkomitees gab‘s keine, aber es gab vereinzelt Soldaten, die diese Zeitungen entgegengenommen und auch in den Kasernen an zuverlässige Kameraden verteilt oder in den Heimaturlaub mitgenommen haben.

Literatur

Hans Schafranek: Österreicher und Österreicherinnen im französischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung: Der „Travail Allemand“ (TA). In: Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes/DÖW (Hrsg): Jahrbuch 2020

Das Forschungsprojekt von Hans Schafranek wird derzeit vom Zukunftsfonds der Republik und von der Hochschuljubiläumsstiftung der Stadt Wien gefördert.

Wie hoch war denn der Anteil der Juden und der Frauen unter den Österreichern im französischen Widerstand? Haben Sie da durch die Biographiearbeit neue Erkenntnisse gewonnen?

Schafranek: Der jüdische Anteil war extrem hoch – ich habe anhand dieser 100 Biografien herausgefunden, dass etwa 80 Prozent jüdischer Herkunft waren. Auch Frauen waren im TA und im Widerstand insgesamt deutlich überrepräsentiert, wenn man als Vergleichsmaßstab die Frauen im Land – in der sogenannten „Ostmark“ – heranzieht. Insgesamt geht man in der Forschung von einem Prozentsatz von zehn bis 15 Prozent Frauen im Widerstand in Österreich aus, in Frankreich war er deutlich höher – bei den hundert Biografien habe ich 25 Frauen erfasst.

Sind Sie auch auf bisher unbekannte Widerstandskämpfer in Frankreich gestoßen?

Schafranek: Das alles ist von der Grundlagenforschung her neu. Bei den hundert ausgewählten Biografien, die ich vor Kurzem erstellt habe, können Sie anhand der angefügten Quellenbasis erkennen, dass ich mich bei mindestens zwei Drittel der biografischen Portraits fast ausschließlich auf unveröffentlichte Quellen stütze.

Und von woher stammen diese Quellen?

Schafranek: Aus einer Reihe von Archiven. In Österreich sind das vor allem das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und das Wiener Stadt- und Landesarchiv; in Deutschland das Bundesarchiv Berlin und das Archiv des Internationalen Tracing Service in Bad Arolsen; in Moskau das „Komintern-Archiv“ (RGASPI), in Belgien das Staatsarchiv in Brüssel, weil viele der nachmaligen Widerstandskämpfer und -kämpferinnen 1938 zuerst nach Belgien ins Exil gingen. Die Recherchen in französischen Archiven stehen noch aus und bedürfen, wie die inhaltliche Ausdehnung des Forschungsprojekts insgesamt, noch etlicher Zusatzfinanzierungen.

Der Widerstand des TA war in mehrere Gruppen aufgeteilt. Die genannte „Mädelarbeit“, „Streugruppen“, die „Inter“ und schließlich die „Eingebauten“, die in deutsche Dienststellen eingeschleust wurden.

Schafranek: Von den 13 bisher identifizierten TA-„Inter“ (= Interdépartementale Instrukteure) habe ich zwölfe Österreicher und einen französischen Kommunisten eruiert. Die „Inter“ waren das wichtigste Bindeglied zwischen der Pariser Leitung (Marek) und den bei deutschen Dienststellen „eingebauten“ Widerstandskämpfern, die durchwegs als Elsässer getarnt waren, um die deutschen wie französischen Sprachkenntnisse glaubwürdig zu erklären. Strategische Schlüsselstellungen waren dabei vor allem die nördlichsten Teile Frankreichs und die gesamte Atlantikküste, beide Zonen besonders abgeschirmt und sehr stark überwacht. Tilly Spiegel spielte dabei eine ganz wichtige Rolle nicht nur, weil sie eine „Inter“ war (als einzige Frau in dieser Funktion), sondern weil sie ein strategisch besonders wichtiges Gebiet betreut hat, nämlich die Départements Meurthe et Moselle, Nord, Pas-de-Calais und Ardennes. Sie hat 1942/43 praktisch ganz Nordfrankreich betreut.

Wie wird denn in Frankreich der Widerstand heute bewertet?

Schafranek: Ich möchte von einem Paradigmenwechsel in der Historiographie über die französische Resistance sprechen. Es gibt eine Fokussierung auf den Aspekt MOI – Main-dʼOeuvre immigrée – Ausländer generell im französischen Widerstand. Die allerjüngste Tendenz sind Untersuchungen, die auch die Schattenseiten der Resistance berücksichtigen. Die beiden Autoren Jean-Marc Berlière und Franck Liaigre haben sich beispielsweise auch mit Fememorden, mit der Hinrichtung von vermeintlichen oder tatsächlichen Verrätern durch spezielle Kommandos der kommunistischen Partei befasst. Auch der Widerstand von Frauen rückt seit den 1990er Jahren vermehrt in den Fokus, etwa durch die Arbeiten von Rita Thalmann, Renée Poznanski und Ingrid Strobl. Schließlich hat sich in neuerer Zeit ein Forschungszweig etabliert, der den Fokus auf „transnational resistance“ richtet. Ein wichtiger Vertreter ist etwa Robert Gildea (Oxford), der vor Kurzem ein Standardwerk zur französischen Resistance vorgelegt hat.

Handgezeichnete Skizze von Lyon / Bild des TA-Aktivisten Josef Gradl
DÖW/RGASPI
Skizze Lyon / Widerstandskämpfer Josef Gradl

Können Sie abschließend ein konkretes Fallbeispiel für einen der eher unbekannten Österreicher im französischen Widerstand präsentieren?

Schafranek: Da fällt die Auswahl schwer, weil es so viele dramatische und auch gut dokumentierbare Beispiele gibt. Vielleicht einige Sätze über Josef Gradl, einen Spanienkämpfer, der 1943 als TA-Aktivist in Lyon einer „Streugruppe“ zugeteilt war. Zusammen mit anderen streute er am helllichten Tag um zwölf Uhr mittags zahlreiche Flugblätter, keine hundert Meter von der Lyoner Gestapo-Zentrale entfernt. Manchmal wurden Flugschriften auch von fahrenden Straßenbahnen aus geworfen, von denen die Aktivisten blitzschnell absprangen. Ebenfalls als französischer Fremdarbeiter getarnt („Joseph Gramont“), kehrte Gradl Ende 1943 nach Österreich zurück und erhielt eine Arbeitsstelle in Ptuj (Slowenien), damals Pettau; als gleichzeitig die Reste des TA in Frankreich und die sogenannte „Fremdarbeiterlinie“ aufgerollt wurden (Juli/August 1944), wurde auch Gradl an seiner Arbeitsstelle verhaftet und von der Gestapo schwer misshandelt und gefoltert. Er konnte sich aus dem provisorischen Gefängnis, einem Kellerabteil, befreien, wurde jedoch auf der Straße erkannt, von einem Gestapobeamten angeschossen und am Oberschenkelknochen schwer verletzt. Aufgrund seiner Transportunfähigkeit kam er nicht nach Wien, sondern verblieb im Krankenhaus Pettau, wo ihm mit Hilfe eines Arztes eine Fluchtmöglichkeit eröffnet wurde, bei der er allerdings aus dem ersten Stock springen musste. Dadurch brach der Oberschenkelknochen erneut. Gradl wurde von slowenischen Partisanen bis Kriegsende versorgt. Nach dem Krieg musste ihm das Bein amputiert werden.

Also auch eine Variante des von Ihnen zuvor erwähnten „transnationalen Widerstandes“?

Schafranek: Ja, und in diesem Fall sozusagen in potenzierter Form.