Spritze mit Tropfen an der Nadel
APA/dpa/Karl-Josef Hildenbrand
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Analyse

Das „Erfolgsgeheimnis“ der Impfgegner

Es gibt noch keinen Impfstoff, der vor dem Coronavirus schützt, aber Impfgegner protestieren schon gegen eine mögliche Impfpflicht. Die zahlenmäßige Randgruppe versteht es, sich öffentlichkeitswirksam zu positionieren – das zeigt auch eine neue Analyse von Facebook-Seiten zum Thema Impfen.

Ein Virus hat uns in den vergangenen Wochen wohl mehr als deutlich vor Augen geführt, wie verwundbar unsere moderne Welt nach wie vor ist. Dass ein winziger Erreger tatsächlich so gefährlich sein kann, ist für viele Menschen heute kaum zu glauben. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass Infektionskrankheiten wie die Pocken, die Kinderlähmung oder die Diptherie die Menschheit regelmäßig heimsuchten und sehr viele Todesopfer forderten.

Dass uns das heute weitgehend erspart bleibt, verdanken wir einer entscheidenden medizinischen Entwicklung: der Schutzimpfung. Viele heute – zumindest in westlichen Industrienationen – selbstverständliche Impfungen wie z.B. gegen Tetanus und Keuchhusten sind erst knapp hundert Jahre alt.

Masern-Mumps-Röteln-Impfstoff wird aufgezogen
AFP/JOHANNES EISELE
Der von Impfgegnern heftig kritisierte Masern-Mumps-Röteln-Impfstoff

Aber nicht alle sehen das als Fortschritt, wie vor allem die Debatte rund um die Masernimpfung in den vergangenen Jahren gezeigt hat. Für die Gegner ist die Infektionserkrankung, an der ungefähr jeder Tausendste stirbt, eine harmlose Kinderkrankheit, die man durchmachen sollte – das sei wichtig für das Immunsystem, heißt es. Manche Eltern lassen zu diesem Zweck sogar ihre gesunden Kinder auf hochansteckende kranke treffen, bei sogenannten Masernpartys. Außerdem hätte die Impfung viele Nebenwirkungen. Das sind nur zwei beliebte Argumente der Impfgegner.

Soziale Medien als Sprachrohr

Zur Verbreitung der in der Regel nicht wissenschaftlich belegten Behauptungen nutzen die Impfkritiker gern soziale Medien wie Facebook. Auf ähnliche Weise werden derzeit auch rund um Sars-CoV-2 viele Halbwahrheiten, Gerüchte und Alternativerklärungen in die Welt gesetzt. Experten fordern deswegen nun in einem offenen Brief ein härteres Vorgehen der Betreiber gegen diese „Infodemie“. Es gibt auch bereits erste Maßnahmen: So hat etwa Twitter vor Kurzem begonnen, Falschinformationen und Verschwörungstheorien zum Coronavirus mit Warnhinweisen zu versehen.

Wie gut sich eigentlich randständige Ansichten über soziale Medien verbreiten lassen, verdeutlicht die soeben erschienene Analyse der Forscher um Neil F. Johnson von der George Washington University. Die wirkungsvolle Einflussnahme von Impfgegnern via Facebook sei mitverantwortlich, dass die Masernfälle in den vergangenen zwei Jahren wieder zunehmen, nämlich auch in den USA und Europa, schreiben sie in „Nature“. 2019 hat es etwa in Europa fast 90.000 gemeldete Fälle gegeben, 2016 waren es nur gut 5.200.

Größe nicht entscheidend

Die Grundlage der Netzwerkanalyse waren die Aktivitäten von etwa 100 Millionen der insgesamt drei Milliarden Facebook-Userinnen und -User im Jahr 2019. Sie hatten in der einen oder anderen Weise zu Impfungen Stellung bezogen.

Die einzelnen Facebook-Seiten stellen die Knoten des Netzwerks dar. Drei verschiedene Typen haben die Forscher identifiziert: Seiten der Impfgegner, Seiten der Befürworter und Unentschiedene, wie z.B. Elternplattformen, die sich zu verschiedenen Themen austauschen. Die Größe der Knoten ergibt sich aus ihren Mitgliedern bzw. Anhängern. Bei der FB-Seite „RAGE Against the Vaccine“ sind das etwa 40.000 Individuen, bei der „Gates Foundation“, die sich für Impfungen stark macht, sind es eine Million. Aber diese Größe dürfte weniger wichtig sein, als man annehmen könnte.

Netzwerkanalyse von Facebook-Seiten zum Thema Impfen
Neil Johnson
Die Netzwerkanalyse zeigt die Hauptschauplätze der Impfdebatte. Rote Knoten sind die Seiten Impfgegner, die blauen die der Befürworter und die grünen die der Untentschiedenen

Denn trotz ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit besetzen die Seiten der Impfgegner recht zentrale Positionen im Netzwerk. Außerdem sind sie eng verknüpft mit den „neutralen“ Seiten. Wie die Forscher vermuten, gelingt es ihnen auf diesem Weg, Menschen zu überzeugen, die zuvor noch unentschlossen waren. Die Seiten der Impfbefürworter finden sich hingegen an der Peripherie des Netzwerks. Das Vorgehen der Impfkritiker erinnere an eine Art Guerillakrieg im virtuellen Raum, bei dem es darum geht, Herz und Verstand jedes einzelnen zu erobern, schreiben die Autoren.

Die Strategie im Detail

Warum die Impfgegner als Minderheit so einflussreich geworden sind, lasse sich an sieben Merkmalen festmachen. Das erste ist die erwähnte enge Verknüpfung mit Unentschlossenen, die Befürworter bekommen von diesen Debatten anscheinend gar nicht so viel mit. Der zweite für die Autoren überraschende Punkt betrifft die Unentschlossenen selbst: Sie sind viel aktiver als angenommen. Sie setzen viele Verweise auf andere Seiten. Die Vorstellung von einer passiven Hintergrundpopulation, die sich von Anhängern oder Kritikern überzeugen lassen, sei völlig falsch.

Drittens sind die Knoten der Impfgegner zwar deutlich kleiner, aber dafür viel mehr als die Pro-Impf-Seiten, nämlich dreimal so viel. Dieser Umstand hängt vermutlich mit dem vierten Merkmal zusammen, das mit den Inhalten zu tun hat. Laut den Forschern haben die Gegner viel mehr Erzählungen im Angebot als die monothematischen Seiten der Befürworter, die meist nur den Nutzen von Impfungen für die öffentliche Gesundheit betonen. Bei den Kritikern könne sich jede und jeder die passende Geschichte aussuchen: Einmal geht es um Sicherheitsaspekte und Nebenwirkungen, ein anderes Mal um alternative Methoden oder Verschwörungen – auch das erinnere stark an die derzeitigen Diskussionen rund um das das neuartige Coronavirus.

Kleinkind wird gegen Masern-Mumps-Röteln geimpft
APA/GEORG HOCHMUTH
In Österreich wird die Masern-Mumps-Röteln ab dem 9. Lebensmonat empfohlen

Das fünfte Merkmal betrifft das rasante Wachstum der Impfgegner-Seiten während der Masernwelle 2019, laut dem sechsten waren das vor allem die mittelgroßen Seiten, auf die Befürworter gar nicht besonders geachtet haben. Die siebte Eigenschaft bezieht sich auf die Verortung: Die Gegner agieren entweder sehr lokal oder sind Teil einer globalen Gemeinschaft.

Gezielte Interventionen

Wenn sich die Dynamik des Netzwerks in ähnlicher Weise fortsetzt, werden sich die Ansichten der Impfgegner in zehn Jahren – zumindest im Facebook-Universum – komplett durchgesetzt haben, befürchten die Forscher. Sie plädieren für gezielte Interventionen, um das zu verhindern.

Mit Hilfe von Netzwerkanalysen wie dieser ließen sich etwa die einflussreichsten Seiten identifizieren. Die Betreiber der Social Media-Plattformen, Gesundheitsdienste oder Politiker könnten versuchen, sich dort einzuschalten. Am besten sollten sie das gemeinsam machen, erklärt Neil Johnson gegenüber science.ORF.at. Ansetzen sollten sie auf allen Ebenen, mit Fingerspitzengefühl für das Misstrauen einer bestimmten Community und mehr Einfallsreichtum bei den Gegenkampagnen, um Unentschlossene zu gewinnen. „Derzeit sind die Botschaften der etablierten Wissenschaft wie simples ‚Vanilleeis‘“, so Johnson „die Gegner bieten eine Vielfalt an attraktiven und exotischen Geschmacksrichtungen.“

Solche Interventionen wären nach Ansicht der Forscher nicht nur beim Impfen, sondern bei vielen Gesundheitsthemen wie auch Covid-19 nötig, um zu verhindern, dass sich schädliche Falschinformationen so mühelos in der Öffentlichkeit verbreiten.