Mathematiker-Papier

Wie eine „Tischvorlage“ Politik gemacht hat

Sechsstellige Todeszahlen – und jeder werde jemanden kennen, der an Covid-19 verstorben ist: Diese drastische Aussage von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) Ende März basiert auf einem Expertenpapier von fünf Forschern. Doch der Text war eine „Tischvorlage“ mit inhaltlichen Leerstellen. Wurde die Wissenschaft instrumentalisiert? Oder wollte sie der Politik eine „Message“ mitgeben?

„Stellungnahme zur COVID19 Krise“ – diesen schlichten Titel trägt das Papier, das von den Mathematikern Walter Schachermayer, Mathias Beiglböck, Philipp Grohs, Joachim Hermisson, alle Forscher an der Universität Wien, und dem Populationsgenetiker Magnus Nordborg von der Akademie der Wissenschaften erstellt wurde. Am 25. März wurden Schachermayer und Beiglböck zu einer Besprechung ins Bundeskanzleramt gebeten, sie sollten einen Überblick aus mathematischer Sicht liefern – so beschreiben die Forscher es in einem Gastbeitrag für den „Falter“. Für science.ORF.at waren sie nicht für ein Interview erreichbar. Datiert ist die Stellungnahme in ihrer ersten Version mit 30.3..

Zahlen zeigen leichte Entspannung

Ein Blick auf die Reproduktionszahl, also auf das Maß, wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt, zeigt: Die Maßnahmen des „Lock-down“ zwei Wochen vorher greifen zu diesem Zeitpunkt bereits, die Zahl sinkt nach einem Höhepunkt am 13.3. kontinuierlich und liegt am 30.3. bereits unter 1,5 (siehe Abbildung).

Die Entwicklung der Reproduktionszahl von 11. März bis 1. April 2020.
Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES)

Entsprechend erleichtert war die Stimmung in der Taskforce im Gesundheitsministerim gegen Ende März, das bestätigen mehrere Mitglieder gegenüber science.ORF.at. Der Public-Health-Experte Martin Sprenger sagt: „Alle waren froh, dass Österreich diese Herausforderung gut bewältigen wird. Sogar aus Tirol ist die Nachricht gekommen, dass sich alles ohne Überlastung der Intensivkapazitäten ausgehen wird. Und das war ja das Ziel der Maßnahmen.“

Daher war man überrascht, als Bundeskanzler Kurz am 30. März in einer Pressekonferenz sagt: „Die Maßnahmen wirken, aber wir müssen die Ausbreitung in Österreich deutlich stärker und weiter drücken. Der Replikationsfaktor muss unter eins sinken.“ Und weiter: „Viele können sich nicht vorstellen, was da in einigen Wochen auf uns zukommt. Aber die Wahrheit ist: Es ist die Ruhe vor dem Sturm.“ In dieser Pressekonferenz wird auch die Pflicht zum Mund-Nasen-Schutz bekanntgegeben. In einer ZIB Spezial am Abend des 30. März sagt der Bundeskanzler: „Die Zeit, in der die Intensivstationen überlastet sein werden, liegt noch vor uns.“ Und er erwähnt wieder den Replikationsfaktor.

Der Begriff Replikationsfaktor findet sich auch im Papier von Schachermayer und Kollegen. Diese Übereinstimmung ist deshalb auffällig, weil er nicht aus der Epidemiologie kommt, dort heißt die entsprechende Größe Reproduktionszahl. Der Replikationsfaktor ist nicht die einzige Übereinstimmung zwischen dem Papier der Mathematiker und den Aussagen der Regierungsspitze. Auch die von Bundeskanzler Kurz und Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) öffentlich erwähnten „100.000 Toten“ finden sich dort, im Text heißt es: „Sobald R0 längerfristig über 1 liegt, sagen Modelle für Österreich etwa 100.000 zusätzliche Tote voraus.“

Worst-Case-Szenario

Diese Modellrechnung sieht folgendermaßen aus: Es wurde bis Ende des Jahres mit einer Reproduktionszahl von 1,7 hochgerechnet, wie viele Menschen erkranken bzw. sterben würden. Wie es zur enormen Zahl von 100.000 Toten kommt, ist im Detail nicht nachvollziehbar.

Wie wirklichkeitsnah solche Extrapolationen sind, ließe sich zum Beispiel mit Hilfe von Maßzahlen für die Sterblichkeit abschätzen. Eine aktuelle Metastudie weist die Fallsterblichkeit (Tote pro Infizierte, Dunkelziffer inklusive) von Covid-19 mit 0,75 Prozent aus. Das ist zwar bloß ein statistischer Durchschnittswert, der sich in Zukunft noch ändern kann, zeigt jedoch: Um zu einer Zahl von 100.000 Toten zu kommen, müsste man sehr pessimistische Annahmen treffen, in dem vorliegenden Papier wurde ein Worst-Case-Szenario berechnet, das mit der Realität wenig zu tun hatte. Das ist ein Punkt, den auch Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien kritisiert:

„Das sogenannte Expertenpapier ist deswegen problematisch, weil die meisten Annahmen nicht genau beschrieben sind. Aus meiner Sicht wurde ein wenig geeignetes Modell verwendet. Die Autoren verwenden zum Beispiel eine wirksame Infektiosität von zehn Tagen. Mit so einer Annahme explodieren die Infektionszahlen, weil solche Modelle sehr sensibel auf die Parameter reagieren. Realistischere Modelle gehen von drei bis vier Tagen aus.“

Das Fazit des Gesundheitsökonomen: „Die Autoren sind alle anerkannte Akademiker – mir ist nicht klar, wie man ein Manuskript abgeben kann, in dem die Annahmen nicht überprüft werden können. Das würden sie vermutlich bei anderen auch nicht akzeptieren. So ein Papier ist als Entscheidungsgrundlage ungeeignet.“

Unterstützung durch zwei Rektoren

Trotzdem stehen zwei Rektoren von österreichischen Universitäten als Unterstützer auf dem Deckblatt des Papiers: Rektor Heinz Engl von der Universität Wien und Rektor Markus Müller von der Medizinuniversität Wien. Wie sehen sie heute diese Unterstützungserklärung? Die Universität Wien schreibt auf Anfrage von science.ORF.at, dass „Rektor Engl informiert war, dass Schachermayer und Kollegen daran arbeiten, und die mathematischen Grundaussagen kannte. Wissenschaftlich war Rektor Engl in das Projekt nicht involviert.“

Ausführlicher die Antwort der Medizinuniversität Wien: Demnach sei Rektor Müller am Sonntag, 29.3., „auf persönliches Ersuchen von Rektor Heinz Engl“ wenige Stunden vor einer Sitzung von Schachermayer telefonisch kontaktiert und über die Arbeit an der Simulation informiert worden. Man habe über Masken, die Reproduktionszahl und – aus Sicht von Müller und Schachermayer zu unterlassende – Lockerungen vor dem 14.4. gesprochen. „Diese Kommunikation wurde offenbar als ‚Unterstützung‘ gewertet und auf der Tischvorlage, die Rektor Müller bei der Sitzung vorfand, angeführt“, so die Medizinuniversität Wien. Und weiter: „Dem Rektor war es niemals ein Anliegen, einer ihm inhaltlich nicht bekannten und auch nicht nachvollziehbaren Skizze ‚Gewicht zu verleihen‘.“

Klares „Dann“, unklares „Wenn“

Auch innerhalb der Regierung dürfte es unterschiedliche Interpretationen zum Papier der Mathematiker geben: Kurz und auch ÖVP-Wissenschaftsminister Heinz Faßmann nehmen darauf Bezug, Faßmann etwa bei einer Pressekonferenz am 10. April, wo er sagt: „Der Bundesregierung wurde vor drei Wochen von den renommierten Mathematikern um Schachermayer und Beiglböck ein Papier vorgelegt, das mit einem alarmierenden Satz eingeleitet wurde: ‚Wenn es nicht gelingt, den Faktor R0 unter den Wert 1 zu drücken, sind in Österreich Zehntausende zusätzliche Tote und ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems zu erwarten.‘“

Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) hingegen betont immer wieder, dass „das Papier nicht aus meinem Krisenstab kommt“. Die Autoren selbst haben es auch noch einmal überarbeitet, öffentlich verfügbar ist nur noch die Variante von 31.3.. Dabei wurde die zentrale Aussage der Version von 30.3., wonach das Gesundheitssystem in Österreich „Mitte April zusammenbrechen wird“, auf „die Belastungsgrenze in Hinblick auf Intensivbetten überschreiten würde“ geändert. Auch der Begriff Replikationsfaktor wurde um die Reproduktionszahl ergänzt.

„Der Zweck der Modellrechnung und Grafik war darzustellen, wie gefährlich das anfänglich in manchen Ländern ernsthaft diskutierte ungebremste Weiterlaufen der Epidemie wäre“, heißt es im „Falter“-Kommentar von Schachermayer und Beiglböck. Und an anderer Stelle: „Wie jedes mathematische Modell kann es nur Aussagen in der Form von ‚wenn … dann‘ treffen.“ Das „Dann“ wurde von der Politik mit Nachdruck kommuniziert. Über das „Wenn“ der Modellannahmen wurde die Öffentlichkeit allerdings bis heute nicht aufgeklärt.