Eine junge Frau hält die Hand einer alten Frau.
APA/HARALD SCHNEIDER
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Lehre: Gesundheit ist ein soziales Projekt

Covid-19 hat das Gesundheitswesen in Österreich schlaglichtartig beleuchtet. Der Grazer Public-Health-Experte Martin Sprenger zieht in einem neuen Buch Bilanz. Eine der wichtigsten Lektionen: „Die eigene Gesundheit lässt sich nicht schützen, wenn man nur auf sich alleine achtet.“

Bei der Bewältigung der Coronavirus-Pandemie, „zeigte es sich in kurzer Zeit, wie wichtig ein gut funktionierendes öffentliches, nicht-privatisiertes und soziales Gesundheitswesen ist“, schreibt Martin Sprenger gemeinsam mit dem Gesundheitsjournalisten Martin Rümmele in dem Buch. „Doch das System ist im Umbruch und Klimawandel, Demografie, Fachkräftemangel, Digitalisierung aber auch mögliche neue Krankheitserreger bedrohen es von allen Seiten. Die Corona-Krise hat neue Fragen aufgeworfen, Stärken und Schwächen im Gesundheitssystem gezeigt. Die Folgen werden uns noch lange beschäftigen.“

Buch

Martin Sprenger, Martin Rümmele (Hg.): „Wir denken Gesundheit neu! Corona als Chance für eine Zeitenwende im Gesundheitswesen“. 184 Seiten, Ampuls Verlag

In dem Buch geht es u. a. um die Krankenhäuser, Pflege, Pharmabranche, E-Health und Telemedizin, Armut und soziale Ungleichheit, Klimakrise, Finanzierung und internationale Erfahrungen. Politisch ernüchternd nach der Regierung von Schwarz-Blau und der von ihr realisierten Krankenkassenreform mit der Zusammenlegung zahlreicher Kassen: „Welche Ergebnisse die Fusionen bringen, ist offen. Die versprochene Patientenmilliarde wird es wohl nie geben. Darin sind sich fast alle einig.“

Gut davongekommen trotz Bettenabbau

Österreich scheint in der Coronavirus-Krise jedenfalls gerade noch einigermaßen gut davongekommen zu sein, wenn man sich die Entwicklung im Gesundheitswesen ansieht. Rümmele und Sprenger, ehemals auch im Covid-19-Beirat des Gesundheitsministeriums: „Die Sorge um Intensivkapazitäten war deshalb so groß, weil diese in den Jahren davor massiv abgebaut worden sind. Gerade in jenen Staaten, wo das besonders der Fall war, gab es die meisten Todesfälle.“

Österreich schrammte da offenbar an einer Katastrophe vorbei. Die Experten: „Die Deckelung der Gesundheitsausgaben in den vergangenen Jahren hat auch in Österreich tiefe Spuren im System hinterlassen: Von 2009 bis 2018 sank die Gesamtzahl der Spitalsbetten um knapp fünf Prozent je Einwohner, die Zahl der Akutbetten sogar um 14 Prozent. Die Zahl der Ärztinnen und Ärzte mit Kassenvertrag ist im vergangenen Jahrzehnt um 300 gesunken, obwohl die Bevölkerung seither deutlich gestiegen ist. Kamen 2009 rund 980 Menschen auf einen Kassenarzt, so waren es 2018 bereits 1.079.“

Einzelpraxen überfordert

Niemand bezweifelt, dass das österreichische Gesundheitswesen im internationalen Vergleich extrem „spitalslastig“ ist. Die Frage ist nur, ob bei Abbau von „Akutbetten“ gleichzeitig eine Aufwertung der restlichen Krankenhäuser eben für Patienten mit komplexen Krankheitsbildern erfolgt und (überproportional) auch genügend Intensivbetten vorgehalten werden.

Für die Primärversorgung setzen die Fachleute jedenfalls eher auf Primärversorgungszentren bzw. Netzwerke samt Einbindung vieler Berufsgruppen. Entscheidend seien attraktive Rahmenbedingungen. Nicht zuletzt habe sich auch in der Krise rund um SARS-CoV-2 herausgestellt, dass die herkömmlichen Einzelpraxen von Hausärzten mit den neuen Anforderungen – auch in Sachen Telemedizin – schlicht und einfach überfordert gewesen seien.

Negativrekord bei Hausärzten

Die Zeit drängt auf diesem Gebiet. Sprenger und Co-Autor Stefan Korsatko in einem Beitrag zur wohnortnahen Versorgung: „In den OECD-Ländern fiel der Anteil der Allgemeinmediziner an allen Ärzten von 32 Prozent auf 29 Prozent. In Österreich lag der Anteil von Hausärzten 1960 noch bei 34 Prozent und fiel bis 2018 auf neun Prozent. Das ist im internationalen Vergleich ein Negativrekord.“

Krankenhäuser, AUVA, die Einbindung von spezialisierten Angehörigen von Pflegeberufen in die Patientenversorgung (auch in der niedergelassenen Praxis), Pflege, soziale Fragen und Pharma – das Buch dokumentiert sehr gut die extrem komplexe Gemengelage im Gesundheitswesen. Ökonomie ist ein Aspekt, Patientenversorgung und Menschlichkeit sind andere, bedeutendere. Und Covid-19 beleuchtet den umfassenden Reformbedarf in Österreich und anderswo nur umso schärfer.