Schmelzende Uhr auf einem Bücherstoß
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Quantenphysik

Wenn die Zeit unscharf wird

Der Wiener Physiker Caslav Brukner erforscht die Grenzregionen der Quantentheorie – und hat dort Phänomene entdeckt, die der Gedankenwelt eines Salvador Dali entsprungen sein könnten: etwa Uhren mit verschwommenen Zeigern.

Eigentlich ist es erstaunlich, dass die beiden erfolgreichsten Theorien der Physik einander nach wie vor gegenüberstehen, als würden sie zwei völlig unterschiedliche Welten beschreiben. Die Quantentheorie ist wie die Allgemeine Relativitätstheorie durch unzählige Experimente bestätigt – doch die beiden sprechen nicht die gleiche Sprache: Im einen Fall ist die Raumzeit Bühne des Geschehens, im anderen Fall ein abstrakter Vektorraum; bei der einen Theorie ticken Uhren, je nach Schwerefeld, mal schneller, mal langsamer, bei der anderen Theorie haben Teilchen keinen bestimmten Aufenthaltsort – bis jemand nachsieht, wo sie eigentlich sind.

Entsteht das Sein erst durch die Wahrnehmung? Der irische Philosoph George Berkeley hätte das bejaht. Als er den Satz „Esse est percipi“ niederschrieb, wusste er noch nicht, dass die Quantenphysiker 200 Jahre später zu einem ganz ähnlichen Schluss kommen würden. Im Gegensatz zu den Kosmologen: Für sie ist das Geschehen im Universum sehr wohl unabhängig vom Beobachter, ein Stern ist ein Stern und eine Uhr ist eine Uhr, ganz egal, ob jemand hinsieht oder nicht.

Gesucht: Quantengravitation

Will man diese beiden Sichtweise zur Deckung bringen, schlittert man in konzeptuelle Schwierigkeiten. Und nicht zuletzt in mathematische, betont Caslav Brukner, Physiker von der Uni Wien und der Akademie der Wissenschaften „Wenn man versucht, die Gravitation zu quantisieren – so, wie das zum Beispiel beim Elektromagnetismus gelungen ist -, dann erhalten wir störende Unendlichkeiten. Wir wissen bis jetzt nicht, wie wir sie loswerden.“

Die große vereinheitlichte Theorie, in der Quanten und Schwerkraft miteinander statt nur nebeneinander auftreten, gibt es noch nicht. Gleichwohl kann man sich in diese Richtung vorantasten. Brukner macht das schon seit einigen Jahren. Er geht mit seinem Team der Frage nach, welche Phänomene so eine Theorie beschreiben würde. Zum Beispiel: Was würde passieren, wenn Uhren Quanteneigenschaften hätten? „Die Zeit wäre unscharf“, sagt Brukner. „Natürlich gibt es auch unter Physikern Debatten darüber, was Zeit überhaupt ist. Mein Standpunkt ist pragmatisch. Oder operational, wie wir das nennen: Zeit ist das, was eine Uhr anzeigt. Bei einer Uhr mit Quanteneigenschaften ist die Position des Zeigers verschwommen – bis ich nachsehe, wie spät es wirklich ist.“

Im Schwerefeld der Uhr

Das klingt schon reichlich verwirrend, ist aber erst die Aufwärmübung für eine Arbeit, die Brukner mit seinem Team kürzlich im Fachblatt „Nature Communications“ veröffentlicht hat. Darin hat der Physiker untersucht, was mit mehreren Quantenuhren passiert, wenn sie sich gegenseitig durch ihre Schwerkraft beeinflussen. „Zeitdilatation“ heißt dieser seit Einstein bekannte Effekt: Die Zeit vergeht umso langsamer, je stärker das Gravitationsfeld ist. Demnach müsste etwa eine Uhr auf Meereshöhe langsamer ticken als auf dem Mount Everest – was auch der Fall ist: Mit Atomuhren hat man solche Effekte bereits nachgewiesen, Brukners Quantenuhren indes sind derzeit bloß Gegenstand von Gedankenexperimenten.

Verbogene Uhren in einem abstrakten Raum
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Was auf ihnen abzulesen wäre, lässt sich mit Hilfe von Papier, Bleistift und mathematischen Formeln dennoch sagen: „Der Punkt unserer Arbeit ist, dass wir nicht so tun, als hätten wir eine absolute Zeit zur Verfügung und könnten objektiv über die Quantenuhren sprechen. Wir haben uns gewissermaßen auf eine der Uhren gesetzt und uns angesehen, welche Zeit wir mit ihr messen könnten. Das Ergebnis ist: Wenn ich diese eine Uhr betrachte, zeigt sie überraschenderweise eine definierte Zeit an. Ihr Zeiger hat eine eindeutige Position, aber die Zeit auf allen anderen Uhren bleibt unscharf, wir können Ursache und Wirkung nicht mehr präzise auseinanderhalten.“

Und gäbe es einen zweiten Physiker, der das Gleiche mit einer anderen Quantenuhr machen würde: Was wäre dann? „Er sähe das, was ich sehe. Dann wäre der Zeiger seiner Uhr scharf, aber die Zeiger alle anderen Uhren verschwommen.“ Die Zeit ist in diesem Gedankenexperiment relativ, wie schon bei Einstein. Und die Unschärfe der Quantenwelt ist es ebenso. „Ich gebe zu, das klingt alles ein bisschen verrückt“, sagt Brukner, „aber es gibt immer noch ein paar Gesetzmäßigkeiten. Unser Bild ist demokratisch, man kann jede Quantenuhr auswählen und kommt immer zum gleichen Ergebnis.“ Das in der Physik anerkannte Prinzip, wonach die Naturgesetze überall gleiche Gültigkeit haben, bleibt auch in diesem Gedankenexperiment erhalten. Auch wenn die Zeit bisweilen surreale Züge annimmt.