Eine Studentin sitzt vor einem Laptop
AFP – AGNES BUN
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Gastbeitrag

„Rettet die Unis und die Unistädte“

Die Coronavirus-Krise hat die Universitäten verändert: Online-Konferenzen ersetzen die Präsenzlehre, die Hochschulen werden immer mehr zu Fernunis. Diese Entwicklung ist nicht nur für die Unis selbst gefährlich, sondern auch für die Städte, in denen sie stehen, argumentieren vier Forscher in einem Gastbeitrag.

Erst am 30. September 2021 sollen jene Verordnungen über studienrechtliche Sondervorschriften aufgrund der COVID-19-Beschlüsse sämtlicher Rektorate österreichischer und deutscher Hochschulen außer Kraft treten, die uns alle seit Mitte März dieses Jahres zu Fernuniversitäten werden ließen. Fernuniversitäten sind Universitäten, die ein Studium mit regulärem akademischem Abschluss ohne Präsenzbetrieb ermöglichen.

Über die Autoren

Der Wiener Historiker Christian Cwik lehrt und forscht an der Universität Graz; Michael Zeuske ist Historiker an der Universität Bonn; Simon Maierhofer Student der Philosophie sowie Anglistik/Amerikanistik und Mark Stieger Politikwissenschaftler und besorgter Student der Geschichte, beide an der Uni Graz.

Studierende und Lehrende an Fernuniversitäten begegnen sich somit ausschließlich in virtuellen Räumen, nur für Abschlussklausuren müssen Studierende in dafür autorisierten Studienzentren physisch präsent sein, was jedoch nicht heißt, dass ihre Lehrer dort physisch präsent sind. Bis März 2020 existierte im deutschsprachigen Raum nur eine einzige echte staatliche Fernuniversität, und zwar im nordrheinwestfälischen Hagen, hinzu kommen noch eine Handvoll Online-Studienlehrgänge auf verschiedene Fachhochschulen und Universitäten in der Schweiz, Deutschland und Österreich verteilt.

Insbesondere für Vollberufstätige mag das Studium an der Fernuniversität Hagen eine interessante Alternative sein, das Studium an einer Präsenzuniversität kann es jedoch aus verschiedenen Gründen nicht ersetzen. Doch wird es angesichts der gebetsmühlenartigen Warnungen vor einer zweiten „Coronavirus-Welle“ sowie der „planmäßigen Fortführung der Digitalisierung“ überhaupt je wieder eine Rückkehr zur alten Universität geben?

Die „alte Universität“

Mit der Gründung der Universität von Cordoba im umajjadischen Kalifat auf der iberischen Halbinsel im Jahre 960 sowie der Gründung der Universität von Parma 962, begann die Geschichte der europäischen Universitäten. Der Begriff Universität leitet sich vom Lateinischen „universitas magistrorum et scolarium“ ab, also der „Gemeinschaft der Lehrer und Schüler.“ Die ersten Universitäten im deutschsprachigen Raum waren Prag (1348), Wien (1365) und Heidelberg (1386). Zuvor hatten bereits die berühmten Universitäten von Oxford (c. 1140), Cambridge (1209), Salamanca (1218) und die Sorbonne in Paris (1257) den Betrieb aufgenommen. Im Gegensatz zu den Schulen förderten die mittelalterlichen Universitäten die Autonomie der Studierenden, ihre eigenen Stundenpläne zusammenzustellen, etwas, das in den letzten Jahrzehnten jedoch weitgehend durch Verschulungsprozesse abgeschafft wurde.

Gerade was die Bekämpfung von immer wieder auftretenden Krankheiten, wie etwa der Pest, betraf, spielten Universitäten sehr oft eine entscheidende Rolle. Die Gründung der Universität Wien im Jahre 1365 war eine direkte Konsequenz auf die Schrecken, die die Pestwelle von 1349 bis 1352 hinterlassen hatte, deren Bekämpfung man noch in die Wunderlehren des Klerus gelegt hatte.

Ausschnitt einer Stadtansicht von Wien (Jacob Hoefnagel, 1609), mit dem Herzogskolleg (rechts) und der Dominikanerkirche (links). Das Herzogskolleg war der erste Standort der Universität Wien (heute: Postgasse 7-9). Die Universität Wien wurde am 12. März 1365 von Rudolph IV. dem „Stifter“ gegründet und feiert 2015 ihr 650-jähriges Jubiläum.
APA – ARCHIV DER UNIVERSITÄT WIEN
Ausschnitt einer Stadtansicht von Wien (Jacob Hoefnagel, 1609), mit dem Herzogskolleg (rechts) und der Dominikanerkirche (links). Das Herzogskolleg war der erste Standort der Universität Wien (heute: Postgasse 7-9). Die Universität Wien wurde am 12. März 1365 von Rudolph IV. dem „Stifter“ gegründet und feiert 2015 ihr 650-jähriges Jubiläum.

Im Jahre 1500 gab es in Europa bereits insgesamt 66 Universitäten. Die Universitäten wurden nicht nur zu Motoren der Urbanisierung am Beginn der Frühen Neuzeit, sondern auch zu einem Symbol dieser Neuen Epoche. Tausende Menschen von überall strömten jahrein, jahraus für ihre Semester bzw. Trimester in die Städte und ließen diese wachsen und gedeihen.

Bedeutende Arbeitgeberinnen

Im Gegensatz zu Wallfahrten, die nur an bestimmten Tagen im Jahr einem Ort Gäste zuführen, also eher touristischen Charakters sind, bewohnten die Hochschullehrer und Studenten die Städte mehrere Monate hindurch. Durch Arbeit und Studium wurden die Universitäten zu bedeutenden Arbeitgeberinnen für viele Menschen, wobei das akademische Personal und die Studierenden nur einen Teil der Arbeitnehmerinnen ausmachte.

Hinzu kam, dass Wohnungen und Zimmer vermietet wurden bzw. Studentenheime gebaut werden mussten, Gaststätten und Greißlereien eröffnet wurden, Buchhandlungen, Papierbedarfsläden und sonstige für das Studium relevanten Branchen sich in den Universitätsstädten ansiedelten. Bis zum Beginn der Französischen Revolution war die Zahl der Universitätsgründungen auf europäischem Boden auf nahezu 200 angestiegen. Mit der Gründung der ersten Universität in Santo Domingo (Hispaniola) im Jahr 1538 wurde das europäische Universitätsmodell auf die Amerikas ausgedehnt.

Das revolutionäre und napoleonische Frankreich sah in den Universitäten jedoch einen gefährlichen Feind, was zwischen 1793 und 1815 zur Schließung zahlreicher Universitäten in Frankreich und in den besetzten und verbündeten Gebieten führte. Doch auch Metternich waren die Universitäten ein Dorn im Auge, weswegen er in den Karlsbader Beschlüssen von 1819 die wiedereröffneten Universitäten unter staatliche Kuratel stellte. Insbesondere die liberale und nationale Studenten- und Lehrerschaft rebellierte gegen den Metternichschen Biedermeier, was schließlich zu den bürgerlichen Revolutionen der Jahre 1848/49 führte. Von da an wurden Universitäten neben ihrer Aufgabe in Forschung und Lehre auch zu Zentren politischer Diskussionen und zur Avantgarde gesellschaftlicher, kultureller und ökonomischer Diskurse (man denke nur an Hegel, Kant oder Freud, alles (auch) Universitätslehrer).

Motoren der Entwicklung

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stiegen die Studierendenzahlen vor allem an den philosophischen Fakultäten inspiriert durch das Humboldt’sche Bildungsideal von Lehre und Forschung auf der Basis akademischer Freiheit. Viele neue wissenschaftliche Disziplinen entstanden und gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden auch endlich Frauen zum Studium zugelassen. Überhaupt entwickelten sich die Universitäten bis zu den dramatischen Folgen des Faschismus, der mit der Vertreibung vieler Lehrer und Studierender einherging, zu Motoren sozialer und wissenschaftlicher Entwicklungen.

Ohne den Zustrom jüdischer Gelehrter und Professoren in den 1930er und 1940er Jahren sind die großen US-amerikanischen Universtäten der Ivy-League und viele andere exzellente Universitäten gar nicht vorstellbar. Die großen gesellschaftlichen Veränderungen der 1960er und 1970er Jahre nahmen zweifellos Ausgang an den Universitäten, die sich für neue gesellschaftliche Schichten öffneten, wodurch noch viel mehr Menschen in die Städte strömten und die wirtschaftliche Bedeutung des Faktors Universität weiter anstieg.

Ohne Live-Dynamik geht gar nichts

Das alles steht auf dem Spiel. Im direkten Bezug zur Gründungsidee – es gibt nur noch beim Gottesdienst (jüdischen, muslimischen und christlichen), in Live-Kulturveranstaltungen (Konzerte, Theater, Vorstellungen, Karnevalsveranstaltungen, Comedy), beim Training im Sport und bei Live-Veranstaltungen von Politikern vor Wählern (Man stelle sich einen Parteitag ohne Hinterzimmer und persönliche Treffen vor) eine solche persönliche und authentische Dynamik wie zwischen Lehrenden und Studierenden, aber auch zwischen Studierenden wie an der „alten“ Universität.

Ohne Live-Dynamik geht gar nichts, auch in der Forschung on the spot nicht (oder denkt jemand, er ist mit Google wirklich „vor Ort“?). Es ist aber viel mehr: Die Lissabon-Strategie der Europäischen Union („Europa als wichtigster wissensbasierter Raum der Welt“) steht auf dem Spiel. Studien, deren Ausrichtung keinen eindeutigen volkswirtschaftlichen Nutzen erkennen ließen, wurden als „Orchideenfächer“ diffamiert, ihre Existenzberechtigung hinterfragt, über ihre Umsiedelung in eine zentralistisch angelegte Universität laut nachgedacht.

Eine Frau vor einem Laptop mit einer Videokonferenz
christian sinibaldi / Eyevine / picturedesk.com
Sieht so auch die Zukunft der Universitäten aus?

Hinzu kam, dass viele Universitäten aus den historischen Stadtkernen an die Stadtränder in künstlich angelegten Campi verlegt und medizinische Fakultäten ausgegliedert wurden, wodurch sie aufhörten Volluniversitäten zu sein und Taskforces heute nur noch aus MedizinerInnen und MathematikerInnen bestehen. Die Coronavirus-Krise hat diese Entwicklung nicht nur beschleunigt, sondern eine neue Dimension eröffnet, die Transformation zur Fernuniversität.

Zoom statt Unis

Der nach unten virale Homogenisierungsdruck des Bologna-Prozesses, Drittmittelzwang und durch Medien ausgeübte Druck in Bezug auf Diversität und Identität waren schon der Krise sehr stark; an der „neuen“ Universität würden sie durch Internet-Plattformen, die in der Krise boomen, ohne Gegensteuern übermächtig. Universitäten mögen nicht direkt systemrelevant sein, indirekt und langfristig sind es doch in sehr hohem Maße.

Man werfe nur einen Blick in heutige leere Unis und ihr Umfeld – die leeren Innenstädte: leere Cafés, Gasthäuser, Geschäfte, leere Büros, Straßen und Plätze – umso auffälliger, je kleiner die Städte sind. Wir überblicken direkt die Unis in Salzburg, Graz, Wien, Leipzig, Köln, Zürich, Bonn, Berlin, Hannover, aber durch enge Kontakte mit FachkollegInnen auch Ann Arbor, New Haven, Oxford, Havanna, Barcelona, Sevilla und viele andere Orte mit Unis weltweit. Universitäten in den Zentren würden durch Zoom in Zimmern ersetzt.

Hauptstädte werden zur Not auch ohne Unis auskommen (Barcelona, New York, Hamburg oder Frankfurt am Main sicherlich auch), aber was ist mit Weimar, Graz, Heidelberg, Tübingen, Marburg, Jena, Rostock, Freiburg im B., Frankfurt an der Oder, Göttingen, Halle usw.? Selbst größere Städte, die als Wissenschafts- und Universitätsstadt gelten (wie Leipzig), sind akut gefährdet. Das sind die Städte, die verarmen oder in der Bedeutungslosigkeit versinken. Die Studierenden, die langfristig wohl am stärksten durch die „neue Normalität“ im negativen Sinne betroffen sind, verlieren ihre Jobs in Gastronomie und Tourismusbranche sowie ihre persönlichen Netzwerke.

“Alte“ Universität unbedingt erhalten

Zoom-Konferenzen mögen ein Hilfsmittel in schweren Krisen- und Lockdown-Zeiten sein. Aber das müssen sie auch bleiben – ein Ersatz, der die wirkliche Dynamik nie ersetzen kann. Webinare können weder Seminare noch andere dynamische Live-Veranstaltungsformen ersetzen (Forschung schon gar nicht), genauso wenig wie politische Veranstaltungen, Kongresse oder Mitarbeiter-Konferenzen.

Der Universität kommt in einer modernen, komplexen Gesellschaft eine zentrale Stellung zu, die sich zwar nicht auf die unmittelbarsten Bedürfnisse der Menschen reduzieren lässt, aber deswegen nicht weniger Gewicht hat. Der direkte Austausch im universitären Betrieb, der eben nicht nur Sprache, sondern auch Mimik, Gestik und Bewegung umfasst, kann nicht ersetzt werden.

Das über Jahrtausende gewachsene System Wissenschaft, das in den Universitäten zur physischen Manifestation kommt, ist eine Kulturleistung, ohne die wir unsere Zivilisation als Ganzes in Frage stellen müssen. Im universitären Diskurs, von Angesicht zu Angesicht, wurde die Geburt der modernen Gesellschaft vorbereitet. Wenn uns deren Errungenschaften etwas wert sind, muss die „alte“ Universität unbedingt erhalten werden.