12. März 1938 – die Massen bei der Hitler-Rede
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Zeitgeschichte

Exilforscher: Von Außenseitern zu Pionieren

Nach 1945 haben vertriebene, jüdische Historiker versucht, den Nationalsozialismus zu erklären. Ihren deutschen Kollegen galten sie als „befangen“. Erst Jahrzehnte später wurden die emigrierten Historiker auch in Deutschland ernstgenommen – und aus den Außenseitern wurden Pioniere.

Im Nationalsozialismus mussten viele jüdische Wissenschaftler aus Deutschland und Österreich ins Ausland fliehen. Jene, die Historiker waren oder es später wurden, haben sich zum Teil auf die deutsche Geschichte, vor allem die Nazi-Zeit fokussiert. Ihre Perspektiven und Forschungsansätze stießen im Nachkriegsdeutschland allerdings nicht gerade auf Begeisterung.

Die Historikerin Anna Corsten von der Universität Leipzig hat den damaligen Kampf um die deutsche Geschichtsschreibung zwischen 1933 und 1945 analysiert. Anhand von elf US-Historikern mit deutschen und österreichischen Wurzeln zeigt sie auf, wie diese im deutschsprachigen Raum zunächst diskreditiert und später besonders hervorgehoben wurden.

Exilierte „Wächter der deutschen Geschichte“

„Als Deutschland sich in eine monströse Tyrannenherrschaft verwandelte, da wurden wir, die amerikanischen Historiker, die Wächter der deutschen Geschichte“, so die freie Übersetzung eines Zitates vom US-amerikanischen Historiker Fritz Stern, das Anna Corsten, derzeit Fellow am Wiener Wiesenthal Institut, bei einem Vortrag ebendort präsentierte.

Fritz Stern war als jüdisches Kind mit seinen Eltern aus Nazi-Deutschland in die USA geflohen und brachte schon in den 50er Jahren ein Buch über den Nationalsozialismus heraus. „Er hat sich damals vor allem Gedanken darüber gemacht, welche Rolle die nationalsozialistische Ideologie gespielt hat für die Machtübertragung 1933 an die Nationalsozialisten“, so Corsten.

Deutsche Historiker sahen unbeteiligte Mehrheit

Die erste Generation der deutschen und österreichischen Exilhistoriker in den USA habe sich vor allem mit Fragestellungen rund um die wirtschaftlichen und sozialen Kontinuitäten beschäftigt, die zum Untergang der Demokratie führten. Die zweite Generation war dann eher an Fragen zum kulturellen und ideologischen Hintergrund interessiert.

In Deutschland selbst schrieb man damals lieber eine andere Geschichte: die Geschichte von Widerstandskämpfern und von einer unschuldigen Mehrheit, erklärt Corsten, „die gezwungen war zu folgen, weil sie einfach keine anderen Handlungsoptionen hatte, also eine deutsche Mehrheit, die eigentlich unbeteiligt war und eine kleine Minderheit von grausamen Nazigrößen.“

Forscher diskreditiert

Stern und seine ausländischen Kollegen seien befangen, daher als Wissenschaftler nicht objektiv, kritisierten viele deutsche Historiker. Ohne darauf einzugehen, dass auch sie selbst nicht unhinterfragt neutral gelten können.

„Es ist interessant, dass diese emigrierten oder auch andere ausländische Historiker als befangen dargestellt werden, aber eigentlich nicht über die eigene mögliche Befangenheit reflektiert wird“, so Anna Corsten. Sie führt etwa den deutschen Historiker Gerhard Ritter an, der noch ein weiteres Argument gegen die Exilhistoriker aufbrachte:

„Das Schrifttum deutscher Emigranten in Amerika und England über das deutsche Problem hat vielfach mehr Verwirrung als Aufklärung gestiftet. […] Langjährige Entfremdung vom deutschen Boden führt leicht zu verzerrter Sicht der Wirklichkeit“, schrieb er 1949.

Wende in den 80er Jahren

Erst ab den 80er Jahren änderte sich das Image der Exilhistoriker. Im Zuge der Aufarbeitung habe man in Deutschland auch die Perspektive der Emigranten hören wollen, sie wurden als Geschichtsschreiber plötzlich sogar zum Teil hochgeschätzt. Ihre Emigration, noch in den 60er Jahren als Makel angesehen, wurde jetzt zum Merkmal von Autorität, so Anna Corsten.

Trotzdem bekämen die Ansätze der emigrierten Historiker in der deutschen Geschichtswissenschaft nach wie vor zu wenig Aufmerksamkeit, meint sie. Elf von ihnen hat sie in ihrem Forschungsprojekt nun ins Zentrum gerückt. Darunter auch zwei aus Österreich: Raul Hilberg und Gerda Lerner.

Gerda Lerner und Raul Hilberg

Letztere ist 1920 in Wien geboren und zu einer Pionierin der US-amerikanischen Frauenbewegung geworden. In den 1940er und 50er Jahren schrieb sie literarische Texte mit autobiografischen Elementen über den Nationalsozialismus.

Raul Hilberg wiederum gilt als Pionier der Holocaust-Forschung. Lange Zeit wurde er kaum beachtet in der Forschung, obwohl er bereits 1961 ein wichtiges Werk mit dem Titel „Die Vernichtung der europäischen Juden“ verfasste, das in den USA durchaus kontrovers diskutiert wurde. Im deutschen Sprachraum erscheint es erst über zwanzig Jahre später. Ende der 80er Jahre bekommt er Aufmerksamkeit – und steht plötzlich im Rampenlicht. Hilberg selbst soll Anna Corsten zufolge dazu einmal gesagt haben: „Zuerst beachten sie mich nicht, dann machen sie mich zum Helden, und beide Male lesen sie meine Bücher nicht.“