Ein Stethoskop liegt auf einem offenen Buch, dahinter ein Computer mit Tastatur
lenetsnikolai – stock.adobe.com
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Preprints

„Im Maschinenraum der Wissensproduktion“

Wie nie zuvor ist die Forschung in den letzten Wochen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestanden. Im Zuge der Coronavirus-Pandemie bekam die Öffentlichkeit auch eine Art Crashkurs dazu, wie wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden – heftige Kontroversen inklusive. Preprints, also noch nicht begutachtete Studien, spielten dabei eine zentrale Rolle.

Das prominenteste Beispiel im deutschen Sprachraum betrifft die Debatte rund um das Ansteckungsrisiko von Kindern, ausgelöst durch eine Studie des deutschen Virologen Christian Drosten. Diese Studie war als sogenanntes Preprint erschienen und sorgte danach für große Aufregung in deutschen Boulevardmedien.

Erkenntnisse durch Kritik und Gegenkritik

Preprints sind Studien, die noch nicht von anderen Forschern und Forscherinnen überprüft wurden. Sie werden auf Server im Internet hochgeladen, jeder und jede kann sie dann anschauen und kritisieren. Zwischen Preprints und der Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift steht der sogenannte Peer-Review-Prozess. Dabei begutachten und kritisieren Kollegen und Kolleginnen aus dem Fachbereich Methoden, Daten und Interpretation der Studie – ein normaler Vorgang und zentrales Merkmal des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts.

Im „Fall Drosten“ wurde dieser normale Vorgang skandalisiert. Statt wie üblich innerhalb der Wissenschaftsgemeinde fand die Kritik und Gegenkritik in der Öffentlichkeit statt – angetrieben durch die Skandalisierungslust der Boulevardmedien und das verständliche Interesse der Öffentlichkeit zu wissen, wie hoch das Ansteckungsrisiko von Kindern ist und was das für die Schließung von Kindergärten und Schulen bedeutet. „Wir bekommen jetzt Einblick in den Maschinenraum der Wissensproduktion“, hat das der Wissenschaftsforscher Rainer Bromme vor Kurzem genannt.

Covid-19-Preprints „explodieren“

Dieser Einblick kann für beide Seiten – Öffentlichkeit wie Wissenschaft – schmerzhaft sein. Zumal wenn es buchstäblich um Leben oder Tod geht und sich die Politik wissenschaftlicher Evidenz bedient, um Maßnahmen zu rechtfertigen. Zum Ende des Vorjahrs aufgetauchten Coronavirus gab es naturgemäß in den ersten Monaten noch nicht so viel Evidenz – mittlerweile freilich explodieren die Studien und Fallbeschreibungen. Auf den Preprint-Servern medRxiv und biorXiv gibt es einen eigenen Covid-19-Bereich, auf dem bereits über 5.200 Arbeiten liegen (Stand: 15.6.), jeden Tag kommen an die 100 neue hinzu.

Diese starke Zunahme geht auch auf eine Entscheidung führender Wissenschaftsorganisationen zurück. Bereits Ende Jänner legten sich die wichtigsten nationalen Forschungsförderer – darunter auch der österreichische Wissenschaftsfonds (FWF) und die Europäische Kommission – unter Führung des britischen Wellcome Trust darauf fest, alle Coronavirus-Studien und ihre zugrundeliegenden Daten frei zugänglich zu machen – und zwar sowohl jene mit Peer Review als auch die Preprints.

Beschleunigung der Beschleunigung

Thematisch ist der Coronavirus-Preprintserver kunterbunt gemischt, die Studien reichen von der Molekularbiologie des Virus über Fallbeschreibungen an Krankenhäusern bis zur Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen in verschiedenen Ländern. Die Preprints liefern einen ungefilterten Einblick in die Vielfalt der Forschung – zwar dominieren chinesische, US-amerikanische und europäische Studien, doch findet man hier auch Arbeiten aus Ländern, die üblicherweise nicht im Zentrum des Interesses stehen.

Preprint-Server an sich sind nichts Neues: Vorreiterin war die Physik, ihre Preprint-Datenbank ArXiv gibt es seit fast 30 Jahren, Medizin und Biologie sind vor ein paar Jahren gefolgt. Was von den Naturwissenschaften ausgegangen war, hat mittlerweile auch die Geistes- und Sozialwissenschaften erfasst, so gibt es auch Preprint-Server für Soziologie, Psychologie und Erziehungswissenschaften. Entwicklungen, die es schon länger gab, haben sich in der Coronavirus-Zeit beschleunigt: Dazu zählt auch die Tendenz, Forschungsresultate immer schneller zu publizieren. Preprint-Server spielen dabei eine zunehmend wichtigere Rolle.