Kind greift auf Mutter-Kind-Pass
APA/BARBARA GINDL
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Mutter-Kind-Pass

„Offenes“ Geschlecht als dritte Option

In der jüngsten Ausgabe des Mutter-Kind-Passes wurde beim Geschlecht eine dritte Option hinzugefügt: Neben „männlich“ und „weiblich“ kann nun auch „offen“ nach der Geburt eines Babys angekreuzt werden. Entsprechende Leitlinien gibt es allerdings nicht.

Wenn der Körper eines Menschen der strikten Definition von Mann oder Frau nicht entspricht, sprechen Medizin und Behörden von „Varianten der Geschlechtsentwicklung“. Andere Begriffe wären Intergeschlechtlichkeit, Intersexualität oder Intersex. Solche Varianten können die inneren Geschlechtsorgane betreffen, die Genitalien, die Chromosomen oder die Sexualhormone.

Männlich, weiblich, offen

Liegt eine solche Variante der Geschlechtsentwicklung bei der Geburt vor und wird sie als solche erkannt, dann können die Geburtshelferinnen und -helfer im Mutter-Kind-Pass und in Folge auch in der Geburtsanzeige seit kurzem „offen“ statt „männlich“ oder „weiblich“ ankreuzen. Der Mutter-Kind-Pass ist ein medizinisches Vorsorgeprogramm, das Mütter in der Schwangerschaft und nach der Geburt bis zum fünften Lebensjahr des Kindes begleitet. Das Programm wird regelmäßig überarbeitet und an den medizinischen Kenntnisstand angepasst oder, wie vor Kurzem, auch an behördliche Vorgaben.

Varianten der Geschlechtsentwicklung ist ein großer Sammelbegriff für viele verschiedene körperliche Entwicklungen – einige sind bereits bei der Geburt erkennbar, andere offenbaren sich erst später im Leben durch Zufallsdiagnosen oder zu Beginn der Pubertät. International gehe man von einem Baby mit Varianten der Geschlechtsentwicklung unter 2.000 bis 4.000 Neugeborenen aus, sagt der Kinderendokrinologe Stefan Riedl, der die Ambulanz für Varianten der Geschlechtsentwicklung am Wiener AKH und die Hormonambulanz am St. Anna Kinderspital leitet.

Pro Jahr 20 bis 40 Kinder betroffen

„In Österreich mit etwa 80.000 Geburten pro Jahr kommen zwischen 20 und 40 Kinder zur Welt, wo tatsächlich eine signifikante Variante auftritt“, so Riedl. Doch nur bei einem Teil der Neugeborenen sei eine genaue Zuordnung bereits in den Tagen nach der Geburt möglich. „Nach der Geburt kann man feststellen, ob das äußere Genital typisch weiblich oder typisch männlich aussieht“, so der Kinderendokrinologe. Hier können Zwischenformen auftreten, wo bestimmte anatomische Merkmale untypisch ausgeprägt sind, wie ein geteilter Hodensack, ähnlich den äußeren Schamlippen, oder das Fehlen einer vaginalen Öffnung.

In manchen Fällen werde die Diagnose auch schon vor der Geburt gestellt, sagt Riedl. „Also wenn man zum Beispiel auf Grund einer Familiengeschichte, wo Varianten der Geschlechtsentwicklung aufgetreten sind, schon vor der Geburt eine Diagnostik macht, etwa eine Chromosomenuntersuchung“, so der Arzt weiter. Beim Neugeborenen können man dann gezielt untersuchen, ob es anatomische Merkmale gibt.

Keine Leitlinien für Geburtshelfer

Auf Nachfrage im Gesundheitsministerium heißt es, dass die Geschlechtskategorie „offen“ Ende 2019 in den Mutter-Kind-Pass aufgenommen wurde. Man habe damit einen entsprechenden Erlass des Innenministeriums umgesetzt. Leitlinien zur Anwendung oder entsprechende Informationen an Hebammen, Gynäkologinnen oder Gynäkologen sind keine ergangen.

Für das Österreichische Hebammengremium kommt die Neuerung überraschend: Man wurde nicht über die neuen Mutter-Kind-Pässe informiert, heißt es auf Nachfrage. Nachdem die Geburtsanzeige mit Angabe des Geschlechts innerhalb einer Woche erfolgen müsse, sei „offen“ eine wichtige Ergänzung. Ist eine binäre Geschlechtszuordnung bzw. genaue Diagnose nicht möglich, können die Geburtshelfer diese Kategorie im Mutter-Kind-Pass bzw. der Geburtsanzeige, die an das Standesamt ergeht, wählen. Es dürften allerdings erst wenige Exemplare der neuen Mutter-Kind-Pässe in Umlauf sein.

Kritik an Prozedere

Der Geschlechtseintrag „offen“ in der Geburtsurkunde und in anderen Dokumenten kann später geändert werden, auf männlich, weiblich oder divers. Allerdings nur auf Basis eines fachmedizinischen Gutachtens zur körperlichen Disposition, so das Innenministerium in einer Stellungnahme. Hier unterscheide sich das Prozedere laut aktuell gültigen Erlass nicht von jenem bei Erwachsenen, die eine Änderung des Geschlechtseintrags vornehmen lassen.

Genau dieser Erlass steht in Kritik: Die Homosexuellen Initiative HOSI und der Verein intergeschlechtlicher Menschen Österreich haben sich Anfang Juni gemeinsam mit mehr als 60 weiteren Organisationen in einem offenen Brief an Innenminister Karl Nehammer gewandt, den Erlass seines Vorgängers Herbert Kickl zu überarbeiten und die Änderung des Geschlechtseintrags zu erleichtern. Sie setzen sich dafür ein, dass der 3. Geschlechtseintrag allen Menschen offensteht, unabhängig von ihren individuellen körperlichen Geschlechtsmerkmalen.