Ein Kind erhält eine Polio-Schluckimpfung
AFP – SERGEI SUPINSKY
AFP – SERGEI SUPINSKY
Kinderlähmung

Die vergessene Epidemie

Eine neue Viruserkrankung, unerklärliche Symptome und vorerst keine Impfung: Diese Situation hat es schon 70 Jahre vor dem Coronavirus in Österreich und weltweit gegeben. Damals betraf es die Kinderlähmung – die Maßnahmen, sie in den Griff zu bekommen, weisen einige Parallelen zur Gegenwart auf.

Erste Fälle von Kinderlähmung, Fachbegriff Poliomyelitis, gab es seit dem 19. Jahrhundert. Aber erst ab etwa 1930 kam es zu größeren Krankheitswellen. 1947 war ein weltweiter Höhepunkt erreicht. Die Todesrate bei den gemeldeten Polio-Fällen lag in Österreich damals bei rund acht Prozent. Nicht viel im Vergleich zu anderen Polio-Wellen, bei denen die Todesrate über 20 Prozent betragen hatte, erklärt die Historikerin Marina Hilber von der Universität Innsbruck. Sie erforscht die Geschichte der Kinderlähmung zwischen 1940 und 1965.

Tödliche Nervenkrankheit

Zunächst betraf die Poliomyelitis hauptsächlich Kinder und Jugendliche. Nach anfänglichen Symptomen wie Fieber, Halsweh, Übelkeit konnte die Krankheit verschwinden – oder aber in Lähmungserscheinungen wieder auftreten. Die Diagnose war also schwierig, denn die ersten Symptome konnten auch eine Erkältung oder Grippe bedeuten. Nicht jeder Arzt erkannte eine Polio im Frühstadium.

Teilweise verlief die Kinderlähmung tödlich, wenn etwa das Herz oder die Atemwege betroffen waren. In anderen Fällen waren die Kinder und später auch Erwachsene ihr Leben lang gelähmt oder gehbehindert, galten als nicht arbeitsfähig.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 15.6., 13:55 Uhr.

Lange Zeit war wenig bekannt über Polio – sie blieb eine geheimnisvolle, gefürchtete Krankheit, so Marina Hilber. Klar war seit Beginn des 20. Jahrhunderts, dass es sich um eine Viruserkrankung handelte. Heute weiß man, dass Polio über Schmierinfektionen und Tröpfchen übertragen werden kann. Im Sommer 1947 – dem Höhepunkt der Polio-Epidemie – hatte man dieses Wissen noch nicht. Es galten daher strenge Vorsichtsmaßnahmen.

Vier Wochen in Quarantäne

„Es gab in allen Bundesländern Infektionshäuser, in denen diese Patienten isoliert wurden. Bei den Quarantänemaßnahmen wurden sie mindestens vier Wochen lang von der Außenwelt abgeschnitten“, so Marina Hilber. Heim-Quarantäne war damals nicht erlaubt. 3.508 Fälle zählte man damals offiziell in Österreich, doch die Dunkelziffer muss weit höher gewesen sein. Einerseits meldeten längst nicht alle die Krankheit, andererseits blieb sie meist unerkannt, denn 90 Prozent der Polio-Infektionen verliefen symptomfrei, so Hilber.

In Tirol, wo Marina Hilber Zeitzeugen interviewt hat, waren in jenem Sommer die Freibäder für Monate geschlossen, das Kino war nur für Erwachsene über 25 erlaubt. Jugendlichen wurden Versammlungen untersagt, denn sie waren die Risikogruppe.

Land stärker betroffen als Stadt

Polio galt als Krankheit, die die Landbevölkerung besonders trifft. Das zeigte sich besonders im Sommer 1947, als es auf dem Land wesentlich mehr Kranke gab als in der Stadt. Vermutet wird, dass in der Stadt eine Grundimmunisierung gegeben war und sich die Krankheit eher auf dem Land in ihrer pandemischen Wirkung entfalten konnte. Die Gesundheitsbehörden klärten auch damals die Bevölkerung über Hygienemaßnahmen auf und warnten vor allem vor Fliegen. Diese könnten Krankheitserreger übertragen, hieß es. Deshalb solle man Obst und Gemüse unbedingt vor dem Verzehr waschen. Eine Regel, die sich bis heute gehalten hat.

Bis zur durchschlagenden Impfung im Jahr 1961 war Polio eine sehr angstbesetzte, gefürchtete Krankheit, erzählt Marina Hilber. „Die Leute haben immer vor Augen gehabt, dass Kinder eben verkrüppelt waren durch diese Krankheit, also es war wirklich ein Schreckgespenst.“

Österreich war 1961 das erste westliche Land, das den Lebendimpfstoff von Albert Sabin einführte. Der Impfstoff wurde zwar ab 1960 in den USA getestet und schon zuvor in einigen Staaten des Ostblocks verwendet, doch Österreich führte 1961 auf gesetzlicher Grundlage eine großangelegte und bundesweite Massenimpfkampagne durch, die es im Westen bis dahin noch nicht gegeben hatte. Ein Drittel der Gesamtbevölkerung war nach der ersten Impfaktion geimpft. „Aus Innsbruck wird berichtet, dass man damals Tonnen an Würfelzucker eingekauft, um diese Impfung, die mit einem Stück Würfelzucker verabreicht wird, durchzuführen“, so Marina Hilber.