Weißkehlammer sitzt auf einem ast
Otter et al.
Otter et al.
Gesänge

Wie ein Vogelzwitschern zum Hit wurde

Ein Lied geht viral: In Kanada hatte ein Weißkehlammer-Männchen einen musikalischen Einfall – und zog damit sämtliche Artgenossen in den Bann. Den neuen Hit zwitschert mittlerweile die gesamte Vogelpopulation. Jetzt rätseln Forscher: Warum war die Melodie so erfolgreich?

Als „Patient Null“ bezeichnet man in der Medizin jene Person, bei der eine Infektionswelle ihren Ausgang genommen hat. „Sänger Null“ unter den kanadischen Weißkehlammern, also der Erfinder der neuen Melodie, ist leider unbekannt. Was Forscher um den Biologen Ken Otter wissen: Der Gesang trat bereits vor den 1990ern auf und verbreitete sich dann im musikalischen Repertoire dieser Art, quer durch den nordamerikanischen Kontinent.

Dass Singvögel ein paar neue Töne zu ihren Gesängen hinzufügen und lokale Dialekte begründen, kommt immer wieder mal vor. Doch dieser Fall, sagt Otter, sei aufgrund seiner Reichweite beispiellos. „Mir ist keine Vogelstudie bekannt, die so eine Verbreitung durch kulturelle Evolution beschreiben hätte.“

Neue kurze Tonfolge

Im Fachblatt „Current Biology“ zeichnen die Forscher jetzt minutiös nach, wie es dazu kam. Normalerweise enden Weißkehlammern ihre territorialen Gesänge mit einer typischen Folge von drei Noten. Die erstmals in den 90er-Jahren entdeckte Variante endet hingegen mit deren zwei. Zu diesem Zeitpunkt war die Verbreitung der neuen, kurzen Tonfolge noch auf die Region westlich der Rocky Mountains beschränkt. Im Jahr 2004 hatte sie bereits Alberta erreicht. „Zehn Jahre später sang dort bereits jeder Vogel den westlichen Dialekt. Wir fanden das Lied dann auch in Ontario, 3.000 Kilometer von uns entfernt.“

Und heute, sagt der Forscher von der University of Northern British Columbia, sei der alte, einst arttypische Vogelgesang komplett verschwunden. Die neue Variante hat also einen Siegeszug durch die kanadischen Bundesstaaten hingelegt, in den USA bot sich das gleiche Bild. Wenn der Begriff „Hit“ in Bezug auf Singvögel eine Berechtigung hat, dann hier.

Dass Otter und sein Team die Verbreitung des Liedes so genau nachvollziehen können, liegt an der tatkräftigen Mithilfe von Laienforschern. Sie hatten Aufnahmen der Vogelgesänge zu dem 20-jährigen Forschungsprojekt beigesteuert und damit die entscheidende Vorarbeit für die nun veröffentlichte Studie geleistet.

Jungvögel lernen von den Alten

Aufgrund der vorliegenden Daten entwickelten Otter und sein Team die Hypothese, dass die Verbreitung des Vogelgesangs etwas mit der Überwinterung zu tun haben könnte. „Wir wussten, dass Männchen in ihren Winterquartieren singen und Jungvögel vor Ort mit ihrem Dialekt beeinflussen könnten.“ Versuche mit Ortungsgeräten bestätigten die Vermutung: Die kulturelle Vererbung verläuft tatsächlich von Alt zu Jung während der Winterzeit. Der Hergang wäre somit aufgeklärt, doch die entscheidende Frage können die Forscher noch nicht beantworten: Warum war das Lied so erfolgreich?

Territoriale Vorteile für Männchen bietet Zwei-Ton-Motiv laut Studie nicht. Bleibt noch die Möglichkeit, dass die Vogelweibchen für die Verbreitung verantwortlich sind. Normalerweise verhalten sich weibliche Singvögel eher konservativ und bevorzugen Gesänge, die für eine Region typisch sind. Bei den Weißkehlammern könnten die Weibchen indes ein Faible für überraschende Motive haben. Ob sie tatsächlich so progressiv gestimmt sind, wollen die Wissenschaftler nun in ihrer nächsten Studie überprüfen. Zu tun gibt es jedenfalls auch sonst genug. Im Westen des Landes ist nämlich kürzlich ein weiteres neues Lied aufgetaucht, das sich bereits gewisser Popularität erfreut – und schon wieder Richtung Osten ausbreitet.