Rekonstruktion eines erwachsenen Homo erectus
Evolution

Wie der Mensch zum Läufer wurde

Der Übergang vom Kletterer zum Läufer war ein entscheidender Schritt der Menschwerdung. Doch der Typus des Langstreckenläufers entwickelte sich viel später als bisher gedacht: Das zeigen Untersuchungen eines österreichischen Anthropologen.

Es war der Jackpot, den man höchstens einmal in einem Forscherleben knackt. Als der kenianische Anthropologe Kamoya Kimeu im August 1984 in Kenia, fünf Kilometer westlich des Turkana-Sees, menschliche Fossilien aus dem Erdreich beförderte, war schon nach kurzer Zeit klar: Hier handelt es sich um einen Jahrhundertfund. Um das bis auf Hände und Füße nahezu perfekt erhaltene Skelett eines Urmenschen.

Rekonstruktion des Turkama Boy
Nikolas Zalotockyj
So könnte der Turkana Boy ausgesehen haben

„Turkana Boy“ heißt der Vertreter der Art Homo erectus heute, der Zustand der Zähne weist auf einen frühen Tod im Alter von bloß neun Jahren hin, die Arm- und Beinknochen wiederum auf einen hochaufgeschossenen Körperbau. 1,69 Meter maß der Turkana Boy trotz seines jugendlichen Alters, Im Erwachsenenalter wäre er wohl mindestens 1,80 Meter groß geworden. Damals, vor anderthalb Millionen Jahren, gab es auch noch andere Menschenarten, etwa den Homo rudolfensis oder den Australopithecus afarensis. Doch die waren im Vergleich dazu Zwerge, nicht größer als 1,50 Meter.

„Als ich Mitte der 90er Jahre in Wien studiert habe, wurde uns in Vorlesungen noch erzählt: Der Turkana Boy war der erste Mensch mit einem langgestreckten Körper. Also ein typischer Dauerläufer – so ähnlich wie der moderne Mensch“, sagt Markus Bastir. Diese seit Jahrzehnten bestehende Lehrmeinung hat der Anthropologe vom Nationalmuseum für Naturwissenschaften in Madrid nun in Experimenten widerlegt.

Doch kein Dauerläufer

Die Knochen des Turkana Boy befinden sich im Nationalmuseum von Nairobi, in einem mit Tresortüren verschlossenen Hochsicherheitsraum, zu dem nur wenige Wissenschaftler Zutritt bekommen. Bastir wurde letztes Jahr ein Forschungsaufenthalt in der Schatzkammer der Paläoanthropologie gewährt, die Arbeitsbedingungen waren allerdings schwierig, erzählt der aus Österreich stammende Forscher. „Während wir die Knochen mit unseren modernen Scannern untersucht haben, kam es immer wieder zu Stromausfällen. Wir mussten immer wieder von Neuem beginnen.“

Die technischen Probleme wurden von ihm und seinem Team letztlich gelöst, nun ist die entsprechende Studie im Fachblatt „Nature Ecology & Evolution“ erschienen. Sie zeigt: Was die Form von Armen und Beinen anlangt, war der Turkana Boy bzw. der Homo erectus tatsächlich außergewöhnlich lang und schlank gebaut. Doch der Burstkorb passt nicht recht zu diesem Typus, er ist zu breit und zu massiv (siehe Video).

Galt der Homo erectus bisher als auf weite Streifzüge spezialisierter Jäger mit einem zarten Körper, stellt er sich nun als deutlich muskulöser und schwerer dar. In Begriffen der Leichtathletik: Der Homo erectus war wohl ein typischer Mittelstreckler mit 80 bis 90 Kilogramm Körpergewicht, zum Savannen-Dauerläufer wurde der Mensch offenbar erst mit dem Homo sapiens, gut eine Million Jahre später.

Menschliche Formenvielfalt

Dass zu Zeiten des Homo erectus auch andere – und nicht zuletzt auch anatomisch völlig unterschiedliche – Menschenarten gelebt haben, dürfte vor allem klimatische Gründe haben. Vor rund zwei Millionen Jahren setzte in Ostafrika eine Phase mit wechselhaften Temperaturen ein, Warmzeiten führten zum Rückzug der tropischen Wälder und machten Platz für ausgedehnte Savannenlandschaften.

Manche Gruppen rückten in den neuen Lebensraum vor, andere verblieben in ihren Waldhabitaten – und stießen mit diesen Strategien eine Entwicklung an, wie sie Charles Darwin bereits im 19. Jahrhundert bei Finken auf den Galapagos-Inseln beschrieben hat: Wenn die Umweltbedingungen unterschiedliche Lebensweisen zulässt, dann fächert sich der Typus durch Spezialisierung früher oder später auf. Im Fall der Darwinfinken existieren die mit unterschiedlichen Schnäbeln bestückten Arten noch immer nebeneinander. Beim Menschen indes ging die einstige Formenvielfalt wieder verloren. Homo erectus, der Mittelstreckler, starb vor rund 100.000 Jahren aus.

Die letzten beiden verbliebenen Menschenarten waren einander kulturell sehr ähnlich, doch anatomisch trennten sie Welten. Homo sapiens erschloss mit seinem für Dauerläufe optimierten Körper neue Lebensräume, der Neandertaler hingegen, muskulös und gedrungen, konnte Beute wohl nur per Überraschungsangriff überwältigen. „Der Neandertaler war ein Sprinter“, sagt Markus Bastir. Womit auch gesagt ist: Auf der Langstrecke hatte er gegen den modernen Menschen wohl wenig Chancen.