Politiker sitzen an einem Besprechungstisch: Regierungstreffen im Bundeskanzleramt in Wien
APA/HANS PUNZ
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Gesellschaft

Die Grenzen wissenschaftlicher Politikberatung

Selten zuvor stand der wissenschaftliche Fortschritt derart im Fokus wie seit Beginn der Coronavirus-Krise. Und selten zuvor war der Einfluss auf das politische Handeln so groß: Dabei wurde für alle sichtbar, was Wissenschaft leisten kann – aber auch, wo die Grenzen wissenschaftlicher Beratung liegen.

Dass politisches Handeln auf Fakten basieren sollte, scheint offensichtlich. Nicht nur, wenn es um so komplexe Krisen wie die Coronavirus-Pandemie oder die Klimaerwärmung geht. Dass die Zusammenarbeit zwischen Politik und Wissenschaft aber auch problematisch sein kann, machte nicht zuletzt der Streit um das sogenannte „Mathematiker-Papier“ deutlich, über das science.ORF.at berichtet hat.

Es ist jenes Papier, in dem Forscher errechneten, es werde 100.000 Tote geben, sollte die Reproduktionszahl R0 längerfristig über 1 liegen. Wie sie auf diese Zahl kamen, ist unklar, da ihre Modellrechnungen nicht ausreichend nachvollziehbar waren. Weiters wurde in dem Papier das Tragen von Maske sowie der Einsatz von Contact Tracing empfohlen. Mit diesem politischen Rat verließen die Mathematiker den Rahmen ihrer Expertise, wie etwa der Sozialwissenschaftler Alexander Bogner vom Institut für Technikfolgenabschätzung der ÖAW kritisiert.

Das „Mathematiker-Papier“ wurde von der Regierung in Pressekonferenzen im Zusammenhang mit neuen Maßnahmen und Einschränkungen zitiert. Hier sei der Verdacht entstanden, dass die hypothetische Totenziffer als Alarmsignal missbraucht wurde, so Bogner. „Das kann im Moment wirkungsvoll sein, weil es disziplinierend wirkt. Doch im Prinzip untergräbt die Politik damit die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft. Denn im Nachhinein entsteht der Eindruck, dass man sich im Rekurs auf Wissenschaft praktisch ‚alles beweisen‘ kann.“

Wie eine wissenschaftliche Politikberatung funktionieren kann, welche Grenzen es gibt und was man aus den vergangenen Wochen und Monaten gelernt hat, erklären der Soziologe Alexander Bogner sowie die Wissenschaftsforscherin Ulrike Felt von der Universität Wien. Eine Übersicht der wichtigsten Punkte.

Klare Aufgabenverteilung:

Damit die wissenschaftliche Beratung von Regierungen funktioniert, müssen zunächst beide Seiten wissen, was sie können und wofür sie zuständig bzw. eben nicht zuständig sind, erklärt Alexander Bogner. „Wenn die Aufgabenverteilung klar ist und beide Seiten wissen, dass die Politik einer anderen Logik zu folgen hat als die Wissenschaft, dann ist eine fruchtbare Zusammenarbeit sehr gut möglich.“

Vereinfacht gesagt lassen sich die Aufgaben folgendermaßen voneinander abgrenzen: Die Wissenschaft soll Phänomene beschreiben, Wissen erzeugen und die Politik über Studienergebnisse, Überblicksanalysen und aktuelle Daten informieren. Die Politik wiederum soll sich an den Evidenzen der Wissenschaft orientieren, gesundheitliche, wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte abwägen und schließlich eigenverantwortlich, wissensbasierte Maßnahmen setzen.

„Wissen allein macht nämlich keine Politik, sondern die Werte machen die Politik. Und die Werte sind auch maßgeblich dafür, ob ein bestimmtes Wissen als umstritten gilt, als Anstoß für eine politische Debatte oder eben nichts dergleichen“, so Bogner.

Erwartungen:

Gerade in Krisenzeiten wünschen sich viele die eine perfekte Lösung, die es freilich nicht gibt und die auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht liefern können. Wissenschaftliche, faktenbasierte Erkenntnisse bieten aber zumindest die Chance, „komplexe Zusammenhänge besser zu verstehen und dadurch vernünftigere Entscheidungen zu treffen als ohne“, erklärt Ulrike Felt.

„Am Ende des Tages darf man sich dabei durchaus konkrete Handlungsempfehlungen von der Wissenschaft erwarten, immerhin sprechen die Daten und Fakten allein nicht für sich selbst“, ergänzt Bogner. Diese Empfehlungen zu beurteilen und konkrete Entscheidungen zu treffen, sei wiederum Sache der Politik. Dass dabei der Wissenschaft die konkrete politische Entscheidung vielleicht nie zu 100 Prozent passen wird, sei kein schlechtes, sondern eher gutes Zeichen, ist Bogner überzeugt. „Dann hat nämlich ein politischer Abwägungsprozess stattgefunden.“

Was ist Wissen?

Widersprüche und begrenztes Wissen sind in der Wissenschaft völlig normal. In der Coronaviruskrise hat sich das weiter verstärkt und ist für alle sichtbar geworden, wie etwa die Fragen nach der Infektiosität von Kindern oder dem Nutzen von Mund-Nasen-Schutzmasken zeigen. Gleichzeitig ändert sich der Wissensstand rasanter als im wissenschaftlichen Normalbetrieb. Zudem werden zahlreiche Studien und Untersuchungen veröffentlicht, bevor sie den vorgesehenen Begutachtungsprozess durchlaufen haben. Das erschwert die wissenschaftliche Beratung. „Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sind gut beraten, immer genau zu reflektieren, wie weit das eigene Wissen überhaupt reicht und wie tragfähig die eigene Datengrundlage ist“, meint Bogner.

Dass es hier in den vergangenen Wochen immer wieder zu öffentlicher Kritik und Diskussionen unter Wissenschaftlern gekommen ist, sei letztlich aber ein beruhigendes Zeichen, ist der Sozialwissenschaftler überzeugt. „Die Leistungsfähigkeit der Wissenschaft bemisst sich ja letztlich an ihrer Fähigkeit zur Selbstkritik.“

Transparenz:

Um zu verhindern, dass sich Wissenschaftler und Politiker gegenseitig instrumentalisieren, muss die Beratung weitgehend transparent sein. Die Politik muss ihrerseits transparent machen, auf welche Studien sie zurückgreift, warum bestimmte Fachexperten beraten und welchen Einfluss ihre Expertise auf die politische Entscheidung hat. „Die Wissenschaft muss wiederum offenlegen, auf welchen Annahmen ihre Schlussfolgerungen und Empfehlungen beruhen, wie solide ihre Daten sind, wo ihr Wissen noch vorläufig ist usw.“, so Bogner.

Auch wenn Wissenschaftler mangels spezifischer Daten als Intellektuelle sprechen und nicht als Experten, muss klargestellt sein. Im Fachjargon spricht man vom „Educated Guess“. „Der Nutzen dieser Semiexpertise ist nicht zu unterschätzen, der Unterschied muss aber deutlich gemacht werden“, so Bogner.

Transparenz muss aber auch überlegt sein, ergänzt Felt: „Es bedeutet nicht, dass man alle Erkenntnisse und Expertenmeinungen einfach öffentlich macht. Man muss sich auch überlegen, was die Bevölkerung wissen muss und wie man unterschiedliche Diskussionslinien so erklärt, dass sie alle verstehen. Das bedarf Arbeit.“ Hier gebe es viel Nachholbedarf, so die Sozialwissenschaftlerin. Wie nicht zuletzt die Problematik um das Mathematiker-Papier deutlich macht. Zudem ist immer noch weitgehend unklar, wer die Regierung in Sachen Coronavirus berät. Allein die Coronavirus-Taskforce des Gesundheitsministerium ist bekannt. Damit weiß man zumindest, wer die beratenden Mediziner und Epidemiologen sind.

Interdisziplinarität:

Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen schauen mit einem spezifischen Blick auf bestimmte Phänomene. Ein Virologe kann nur Aussagen über die menschliche Gesundheit treffen und weiß nicht über soziale oder wirtschaftliche Mechanismen Bescheid. „Es ist ganz offensichtlich ungenügend, wenn die Politik auf Dauer nur die Brille der Virologen aufsetzt oder nur die der Ökonomen“, so Bogner. So kritisieren Felt und Bogner etwa, dass nicht schon eher Sozialwissenschaftler an den Tisch geholt wurden. „Beispielsweise hätte man in die Diskussionen um die Corona-App früher die Expertise aus dem Bereich der Technikfolgenabschätzung einbeziehen müssen. Hier hat man in den letzten 20, 30 Jahren eine immense Expertise aufgebaut.“

Dass sich aus den unterschiedlichen Fachexpertisen aber nicht eine Expertenmeinung aus einem Guss formen lässt, scheint klar. Oft spricht man nicht einmal innerhalb der Virologen oder Wirtschaftswissenschaftler mit einer Stimme. Diese wechselseitige Kritik und oft auch Streits, machen Wissenschaft letztlich aus und ermöglichen nicht zuletzt Fortschritt.

Expertenwahl:

Vielfalt spielt nicht nur bei den wissenschaftlichen Bereichen eine wichtige Rolle, es ist auch entscheidend, wie vielfältig ein Gremium in Sachen Geschlecht und Herkunft besetzt ist. Die Forschungsergebnisse hängen zwar nicht davon ab, ob ein Mann oder eine Frau beispielsweise im Labor steht. Diversität ermöglicht aber einen breiteren Blick und macht unterschiedliche Problemstellen deutlicher – etwa, wenn es darum geht, ob durch die Krise und die getroffenen Maßnahmen überwunden geglaubte Rollenbilder wiederkommen.

Was wir bisher gelernt haben:

Bogner beschreibt die Coronakrise als „extrem aufklärerisch“. Nicht nur erfährt man in Echtzeit, wie ein Virus funktioniert und wer davon wie betroffen ist. Es wird auch deutlich, wie Wissenschaft arbeitet, dass es auch in der Wissenschaft Fehler gibt und keine absoluten Wahrheiten. „Die Wissenschaft lebt davon, dass sie von schlechteren Irrtümern zu besseren Irrtümern findet“, so Bogner.

Auch die Wissenschaft selbst hätte viel über sich gelernt, beobachtet Bogner. Das betrifft einerseits ihr Verhältnis zur Politik. „Wir erleben momentan ein beeindruckendes Niveau an Selbstreflexion. Das heißt, Experten und Expertinnen geben in vielen Fällen freimütig Hinweise auf die Vorläufigkeit ihres Wissens und auf die Fehlbarkeit der wissenschaftlichen Forschung bis hin zu Uneindeutigkeiten in der Datenlage. Das heißt, sie führt selbst in Echtzeit vor, dass die Wissenschaft gerade einen Lernprozess durchläuft.“