Eine Gruppe Juden  im April/Mai 1943 im Warschauer Getto
ASSOCIATED PRESS
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Geschichte

Wie das Warschauer Ghetto Fleckfieber besiegte

Im Warschauer Ghetto haben die Nazis im Zweiten Weltkrieg 450.000 Juden und Jüdinnen auf engstem Raum eingepfercht. Zehntausende verhungerten oder starben an Fleckfieber. Mit Selbstdisziplin und „Social Distancing“ gelang es aber laut einer neuen Studie, die Krankheit unter widrigsten Umständen zu besiegen.

„Das war damals unerklärlich, viele hielten es für ein Wunder“, sagt der Mathematiker Lewi Stone von der Universität Tel Aviv. Gemeinsam mit Historikern und Ökologinnen hat er soeben eine Studie veröffentlicht, die Erklärungen für das „Wunder“ bietet.

Brutkasten für Epidemie

Errichtet haben die Nationalsozialisten das Ghetto im besetzten Warschau ab Herbst 1940. Rund 450.000 deutsche und polnische Juden und Jüdinnen mussten fortan auf etwas über drei Quadratkilometern leben. Juden als Krankheitsüberträger und Gefahr für die „deutsche Volksgesundheit“ waren fixer Bestandteil des NS-Antisemitismus, die Mauer des Warschauer Ghettos wurde zur „Seuchenmauer“ erklärt.

In Wahrheit schufen die Nazis mit dem Ghetto die idealen Bedingungen für eine Epidemie wie Fleckfieber (Flecktyphus) – quasi einen Brutkasten. Essensrationen von weniger als 200 Kalorien pro Tag, die Enge und die katastrophalen sanitären Bedingungen führten 1941 zu einem massiven Ausbruch der Krankheit. „Die Nazis waren sich natürlich bewusst, dass das passieren würde“, sagt Stone. Fleckfieber sei als Kriegswaffe eingesetzt worden, ein Vorbote des folgenden Genozids.

Über 100.000 Bewohnerinnen und Bewohner steckten sich mit der bakteriellen Infektionskrankheit an, die vor allem durch Läuse übertragen wurde. Zehntausende starben daran direkt oder in Verbindung mit Hunger. Im Oktober 1941 setzte der Winter ein, und nach den Modellberechnungen der Forscher sollte sich die Infektionszahl nun eigentlich verzweifachen oder verdreifachen – tat sie aber nicht. Im Gegenteil: Sie begann dramatisch zu sinken, und das Warschauer Ghetto konnte das Fleckfieber besiegen.

Eine Gruppe Juden  im April 1943 im Warschauer Ghetto, darunter Frauen und Kinder mit erhobenen Armen. Deutsche Soldaten richten Gewehre auf sie
AP – B.I. SANDERS
Szene vom April 1943 während des Aufstands im Warschauer Ghetto

Hygieneschulungen und Untergrund-Uni

Wie das möglich war? Durch eine Reihe von Verhaltensänderungen und einen erstaunlichen Grad an Selbstorganisation. So kamen viele der Infizierten in Heimquarantäne – „Social Distancing“, könnte man heute sagen, und zwar unter besonders widrigen Umständen. Hunderte öffentliche Schulungen wurden durchgeführt, die grundlegendes Hygiene- und Krankheitswissen vermittelten, eine Art Untergrund-Medizinuni für junge Studierende wurde gegründet, über 100 Suppenküchen versuchten, den Hunger zu lindern.

Unter den Bewohnern des Ghettos befanden sich viele Ärzte und Ärztinnen, darunter auch führende Experten ihres Gebiets wie der Bakteriologe Ludwik Hirszfeld. Er überlebte den Holocaust und notierte später: „Im Zweiten Weltkrieg wurde Fleckfieber von den Deutschen geschaffen – ausgelöst durch einen Mangel an Essen, Seife und Wasser.“ Gemeinsam mit der Bevölkerung stemmten sich die Experten und Expertinnen gegen die Krankheit. „Und das hat sich am Ende ausgezahlt“, sagt Stone, der Leiter der aktuellen Studie.

100.000 weitere Infektionen verhindert

Die Selbsthilfemaßnahmen im Warschauer Ghetto, getragen vom Judenrat und verschiedenen Hilfsorganisationen, sind aus der Literatur prinzipiell bekannt. Für die nun erschienene Studie haben Stone und sein Team nun aber ihre konkreten Auswirkungen in Zahlen gegossen. „Wir haben mit State-of-the-art-Modellen der Mathematik untersucht, ob sich der Flecktyphusausbruch von selbst ‚ausgebrannt‘ hat oder ob das an den Interventionen der Bewohner lag“, so Stone.

Recht schnell sei klar geworden, dass nur Letzteres der Fall sein konnte. Dafür sprechen auch Fleckfieberausbrüche zur gleichen Zeit in anderen Gegenden, deren Zahlen im Winter explodiert sind. Der Höhepunkt der Welle im Warschauer Ghetto hätte laut statistischen Prognosen im Jänner 1942 liegen müssen. Dank der Hygienemaßnahmen begann die Kurve aber bereits im Oktober davor abzuflachen, als noch weniger als zehn Prozent der Bewohner und Bewohnerinnen erkrankt waren. Über 100.000 weitere Infektionen seien so verhindert worden, schreiben die Forscher, somit auch mehrere zehntausend Todesfälle.

Die Tragik der Geschichte besteht darin, dass das den allermeisten nichts genutzt hat. Ein Großteil von ihnen wurde später im Vernichtungslager Treblinka ermordet.

Der Maler und Holocaust-Überlebende Israel Bernbaum verwendete 1981 in seinem Gemälde „Jüdische Kinder in Ghettos und Todeslagern“ bunte Farben
Montclair State University Permanent Collection
Gemälde des Malers und Holocaust-Überlebenden Israel Bernbaum „Jüdische Kinder in Ghettos und Todeslagern“

Lehren für heute

Aus Sicht der Autoren und Autorinnen hat die bemerkenswerte Fleckfieberbekämpfung auch eine Botschaft für die heutige Zeit. Auch wenn Fleckfieber nicht mit Covid-19 zu vergleichen sei, könne man historisch aus der Episode etwas lernen. „Die Bewohner und Bewohnerinnen des Warschauer Ghettos haben gezeigt, wie wichtig das Verhalten einzelner Erkrankter in Sachen Hygiene, Abstandhalten und Selbstisolation ist, um Infektionen in einer Gemeinschaft zu verringern“, sagt Yael Artzy-Randru, Koautorin der Studie und Theoretische Ökologin an der Universität Amsterdam. „Kooperation und aktive Verstärkung von Gemeinschaften besiegen Epidemien und Pandemien, nicht allein die Vorschriften der Regierung.“