Tabletten liegen auf sechs Löffeln.
dpa/Matthias Hiekel
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Nahrung

Keine gute Idee: Vitaminpillen als Coronavirus-Schutz

Zwischen Jänner und Juni haben Österreichs Apotheken Nahrungsergänzungsmittel im Wert von 133 Millionen Euro verkauft, zehn Prozent mehr als im Vorjahr. Offenbar hatten viele Menschen versucht, sich damit vor dem Coronavirus zu schützen – doch zu viele Vitaminpillen und Co. können gefährlich sein, warnen Experten.

Es handelt sich um einen Milliardenmarkt, der stetig wächst. Bereits vor der Covid-19-Pandemie nahmen rund 40 Prozent aller Österreicher und Österreicherinnen Nahrungsergänzungsmittel ein – etwa Vitamine, Proteine, Mineralien und Phytoöstrogene. Im ersten Halbjahr 2020 wurden 5,5 Millionen Packungen im Bereich der Nahrungsergänzung verkauft. Das ist ein Zuwachs im Vergleich zum Vorjahr um zehn Prozent nach Wert, wie Marktforscher von IQVIA PharmaTrend berichtet haben.

Der Grund dafür dürfte die Verunsicherung durch die Coronavirus-Pandemie sein. Medizinisch betrachtet ist der Trend nicht nur nicht sinnvoll, sondern kann sogar Schaden anrichten. Das Problem: Nahrungsergänzungsmittel sind Lebensmittel und keine Medikamente. Daher müssen sie auch keinen Wirkungsnachweis haben. Aufgrund der gut funktionierenden Werbemaschinerie ist das vielen Konsumenten und Konsumentinnen aber nicht bewusst.

Antioxidantien sind allgegenwärtig

Besonders beliebt in Österreich ist Vitamin C, das ebenso wie die Vitamine A und E sowie Beta-Carotin antioxidativ wirkt. Die Stoffe fangen Sauerstoffradikale ab, die in den Zellkern eindringen und dort für Schaden sorgen können. Daher stammt der gute Ruf der Antioxidantien. Allerdings bedeutet eine antioxidative Wirkung auch, dass Oxidationsprozesse verzögert oder unterbunden werden.

Diese sind im lebenden Organismus von großer Bedeutung. Bei ausgewogener Ernährung ist das kein Thema. Werden Antioxidantien allerdings über Nahrungsergänzungsmittel in hohen Dosen zugeführt, kann es problematisch werden. „Antioxidantien können wir nicht entkommen. Es heißt immer, man muss den oxidativen Stress abbauen, ich rede aber von antioxidativem Stress, weil fast alle Konservierungsmittel antioxidativ sind“, sagt der Ernährungsmediziner und Internist Maximilian Ledochowski.

Ö1 Sendungshinweis

Radiodoktor – Das Ö1 Gesundheitsmagazin, 19.8, 16.40 Uhr: Warum Vitaminpräparate nicht harmlos sind

Den meisten Menschen ist nicht bewusst, dass sie durch die Nahrung eine Menge an Antioxidantien aufnehmen. Diese gelangen einerseits durch Konservierungsmittel, andererseits durch den Produktionsprozess in die Nahrung. Vitamin C beispielsweise wird dem Brot in hohen Konzentrationen zugesetzt, damit das Mehl nicht braun wird. Auch Extrawurst aus dem Supermarkt enthält Vitamin C. Dieses Vitamin stellt bei der Kennzeichnung von Lebensmitteln eine Ausnahme dar. Da es als ungefährlich betrachtet wird, muss es nicht angeführt werden. Deshalb können Konsumenten und Konsumentinnen gar nicht wissen, wie viel Vitamin C sie tatsächlich regelmäßig zu sich nehmen.

Überdosis an Vitaminen schneller als gedacht

Ein weiterer Grund für eine Überdosis an Vitaminen: Lautet die Verzehrempfehlung bei Pillen „eine Tablette pro Tag“, nehmen viele zwei zu sich. Außerdem hat der deutsche Konsumentenschutz herausgefunden, dass die Maximaldosen in den Produkten oft um ein Mehrfaches überschritten werden.

Neben Vitamin C wird in Österreich sehr gerne zu Multivitaminpräparaten gegriffen. Laut einer Erhebung der Arbeiterkammer Wien werden als kritisch eingestufte Vitamine und Mineralstoffe in solchen Multivitaminkapseln nicht vorsichtig genug dosiert. Darüber hinaus kommt es zu Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Stoffen: Nimmt man zum Beispiel zu viel Calcium zu sich, scheidet der Körper Magnesium aus. Werden mehrere antioxidative Stoffe kombiniert, ist davon auszugehen, dass sich die antioxidative Wirkung multipliziert. Der Körper kann mit einem Überschuss an Vitaminen nicht umgehen und scheidet sie aus. Dadurch muss die Niere eine höhere Leistung erbringen, und das belastet den Körper.

Negativer Einfluss auf Immunsystem …

Wird eine hohe Menge an Vitaminen zugeführt, kann sich das auch negativ auf die Immunabwehr auswirken. Dietmar Fuchs, Leiter des Biozentrums der Medizinischen Universität Innsbruck: „Wir haben in den letzten 20 bis 30 Jahren gelernt, dass Antioxidantien die sogenannte TH2-Antwort fördern können und dadurch Allergien wahrscheinlicher werden.“ Bei Menschen mit Allergien ist das Gleichgewicht zwischen TH1- und TH2-Zelltypen der Immunabwehr verschoben. TH1-Zellen bekämpfen Viren, TH2-Zellen wehren Parasiten ab. Überwiegt die TH2-Zelllinie, kommt es eher zu Allergien, so Fuchs.

… und erhöhtes Krebsrisiko

Jahrzehntelang ging die medizinische Forschung davon aus, dass Vitamine vor Herzkreislauferkrankungen und Krebs schützen können. Es gab zahlreiche groß angelegte Untersuchungen dazu. Die größte Studie, die jemals zur Prostatakrebs-Prävention durchgeführt wurde, hieß SELECT. Sie umfasste 35.000 Männer aus den USA, Kanada und Puerto Rico. Eine Gruppe nahm regelmäßig Vitamin E ein, die andere ein Placebopräparat.

Die Auswertung ergab allerdings keine positive Auswirkung der Vitamine, das Gegenteil war der Fall: Die Vitamin-E-Gruppe hatte ein deutlich erhöhtes Risiko, an Prostatakrebs zu erkranken. Besonders desillusionierend waren auch die CARET- und die finnische Raucherstudie. Mehr als 29.000 männliche Raucher in Finnland und 18.000 männliche Raucher und Asbestarbeiter in den USA erhielten entweder ein Placebo oder Dosierungen von 15 bis 30 Milligramm Beta-Carotin pro Tag – teilweise in Kombination mit Vitamin E oder A.

Die Studie musste abgebrochen werden, da bei den Probanden die Lungenkrebshäufigkeit zugenommen hatte – um 18 Prozent bei der finnischen Studie und um 28 Prozent bei CARET.

Vitaminarmut Problem der Aufnahme

Die meisten Konsumenten und Konsumentinnen von Nahrungsergänzungsmitteln pflegen ohnehin einen gesünderen Lebensstil, und nehmen mehr Vitamine durch die Nahrung auf als die Durchschnittsbevölkerung. Dennoch denken viele, unter Mangelerscheinungen zu leiden. „Wenn wir eine Vitaminarmut haben, haben wir in der westlichen Welt fast immer einen Mangel der Aufnahme, nicht der Zufuhr. Ein Drittel der Patienten hat einen Vitaminmangel aufgrund einer Fruchtzuckerunverträglichkeit“, erklärt Ledochowski.

Dabei kann der Fruchtzucker im Darm nicht vollständig aufgenommen werden. Das führt zu Bauchschmerzen, Blähungen und Durchfall. Es kann außerdem zu einer Beeinträchtigung der Darmschleimhaut kommen, wenn Bakterien aus dem Dickdarm in den Dünndarm eindringen. „Wir haben das in einer Studie nachgewiesen: Der Fruchtzucker ist weggefallen, es wurde also weniger Folsäure zugeführt, trotzdem ist der Folsäurespiegel angestiegen. Weil sich der Darm erholt hat, hat er sich aus der Nahrung wieder genug herausgeholt“, sagt Ledochowski. Bei einem Mangel müsse somit nichts ersetzt, sondern die Ursache gesucht und behoben werden.