Hegel
ORF/Lukas Wieselberg – Maya McKechneay
ORF/Lukas Wieselberg – Maya McKechneay
250 Jahre Hegel

Die Spur in die Mathematik

Die Sprache unverständlich, die Denkmethode veraltet, unwissenschaftlich oder gar totalitär: So ordnen viele Kritiker Georg Wilhelm Friedrich Hegel ein. Der deutsche Autor Dietmar Dath sieht das ganz anders – er hält den vor 250 Jahren geborenen Philosophen ausgerechnet in jenen Gebieten für gegenwartsrelevant, die als seine schwächsten gelten, in Mathematik und Naturwissenschaften.

Mehrheitsfähig ist diese Position von Dietmar Dath, umtriebiger Publizist von Romanen und Sachbüchern sowie FAZ-Kulturredakteur, am deutschsprachigen Meinungsmarkt nicht. Macht aber nichts. Schon mit seinem vor Kurzem erschienenen Buch „Hegel. 100 Seiten“ hat er vermutlich viele verstört. Große Brocken der üblichen Hegel-Exegese, etwa die „Herr-Knecht-Dialektik“, fehlen darin ganz oder werden höchstens gestreift. Mit dem gewählten Motto „Die einzig simple Regel für Hegel ist: Es gibt keine simple Regel für Hegel“ lebt Dath aber sehr gut – und schafft es, auch Novizinnen und Novizen für die Ideen des nicht gerade unterkomplexen Philosophen zu interessieren.

“Ideen, die mit anderen Ideen spielen“

Einer Spur, der er folgt, ist die unwahrscheinlichste von allen: jener zu den Naturwissenschaften und zur Mathematik. Die Naturphilosophie Hegels gilt auch in der eigenen Zunft als seine schwächste Seite. Für naturwissenschaftlichen Fortschritt, Experimente und dergleichen hatte Hegel wenig übrig. Er dachte das Universum lieber als es zu durchmessen. Generationen neopositivistisch gesinnter Autoren und Autorinnen haben sich über einschlägige Formulierungen Hegels lustig gemacht.

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Dath zitiert den australischen Philosophen David Stove, der sich über Hegels astronomische Gedanken – etwa: der das All erfüllende Äther habe seine innere Vernunft und Totalität in Gestalt von Blüten, also Planeten, in eine Expansion ausgestülpt – mokierte. Dass dieser Versuch, Wirklichkeit zu beschreiben, nichts mit der empirisch messbaren Wirklichkeit zu tun hat, ist für Neopositivisten zu Recht ein Graus. Hegel beschreibe aber eine andere Art von Wirklichkeit, so Dath: „Er betrachtet Ideen, die mit anderen Ideen und mit sich selbst spielen.“ – Klar, deshalb gilt er ja auch als die Krone des deutschen Idealismus.

Porträt von Hegel
ÖNB

Diese Krone ist aber materialistischer als man glaubt, so ein Credo des Autors. Wenn man nämlich die scheinbar so getrennten Wissenstraditionen von Idealismus und Materialismus, von Rationalismus und Empirismus über längere Zeiträume verfolgt, verschwimmen ihre scheinbar so scharf getrennten Grenzen.

Das Wirkliche ist vernünftig

Um das zu skizzieren, muss man eine ganz große historische Kiste aufmachen: Dath bezeichnet Hegel als den zweiten Höhepunkt des deutschen Rationalismus. Hegels Motto „Das Wirkliche ist vernünftig“ wurde oft kritisiert und belächelt, heißt aber nicht viel mehr, als dass „die Welt“ oder „das Wirkliche“ unserer Vernunft zugänglich ist. Den ersten Höhepunkt des deutschen Rationalismus sieht Dath in Leibniz, über 100 Jahre vor Hegel. „Leibniz hat auch diesen Traum geträumt, dass die Welt vernünftig ist, aber so nie gesagt“, meint Dath. Leibniz träumte von einer Universalsprache, mit der man nur richtige Sätze formulieren kann. Diese Idee einer lingua universalis wurde in der Mathematik weiter geträumt, bis Kurt Gödel auch ihr einen Strich durch die Rechnung machte. „Mit seinen Unvollständigkeitssätzen hat er bewiesen, dass formale Systeme entweder vollständig sind, aber dann sind sie widersprüchlich, oder sie sind widerspruchsfrei, aber dann fehlt ihnen etwas.“

“Dann ist etwas Geiles geschehen“

Als „Abfallprodukt“, wie es Dath nennt, jenes Prozesses, der versucht hat, eine perfekte logische Formensprache zu finden, ist etwas entstanden, das wir heute Computerprogramme nennen. „Und dann ist etwas ganz Geiles geschehen“, freut sich Dath, „Die Mathematik schien immer auf der Seite des Rationalismus und nicht des Empirismus zu stehen. Vor den Computern galt: Mathe findet nur statt, wenn einer rechnet. Einen Messapparat laufen lassen, kann auch ein Idiot. Mathematik hingegen kann kein Idiot machen, aber sogar ein Blinder und jemand, der in einem Raum eingeschlossen ist, wenn er ein gutes Gedächtnis hat.“ Mit den Computern habe sich dieses Setting geändert. Sie können viel besser als Menschen rechnen und schließen, die Mathematik wurde plötzlich gewissermaßen empirisch. „D.h., wenn die Rationalität genügend weit entwickelt wird, landet sie in der Empirie, wie auch umgekehrt, wenn die Empirie genügend weit entwickelt wird, in der Rationalität landet.“

Porträt von Hegel
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Das sind Beobachtungen, die durchaus auch zu Positionen der analytischen Philosophie passen. Der Logiker Willard Van Orman Quine unterschied etwa zwischen reinen Vernunftwahrheiten, die auf der Bedeutung von Wörtern beruhen („ein Unverheirateter ist Junggeselle“), und empirischen Wahrheiten, die man untersuchen kann („Ludwig ist Junggeselle“). „Quine zeigte, dass der auf den ersten Blick so eindeutige Unterschied dieser beiden Wahrheiten nicht haltbar ist“, sagt Dath. „Wenn man genauer hinsieht, gehen sie ineinander über. Denn Vernunftwahrheiten sind nur deshalb wahr, weil sie etwas mit der Welt zu tun haben, und empirische Wahrheiten sind nur wahr, weil sie etwas mit Definitionen zu tun haben, die wir Sachen in der Welt ankleben. Und jetzt kommt es: Dieses Ineinanderkippen von zwei angeblich gegensätzlichen Sachen ist natürlich genau das, was Hegel die ganze Zeit macht.“

Dialektische Sprünge

Das „Zauberwort“ dafür heißt natürlich: Dialektik. These-Antithese-Synthese lautet dazu der Dreischritt aus dem Lehrbuch. Eine Schablone, die gar nicht von Hegel stammt, mit der sich seine Denkbewegung dennoch gut illustrieren lässt. Ein Sachverhalt wird gesetzt – These. Dieser These wird widersprochen – Antithese. Auch dieser Antithese wird widersprochen – die Negation wird negiert – es entsteht im dritten Schritt eine Synthese, in der die beiden ersten Schritte enthalten sind.

Nach einer dialektischen Denkfigur können quantitative Änderungen einer Entwicklung ab einem bestimmten Punkt zu einer Änderung der Qualität führen. „Die gesamte rationalistische Traditionen hat so einen dialektischen Sprung gemacht, wie er im Hegelschen Werk gedacht und vorgesehen wird – durch die Tatsache, dass Maschinen jetzt für uns denken können“, sagt Dath. Hegel hätte diese Entwicklung sehr spannend gefunden, ist der Autor überzeugt.

Kronzeugen dafür gebe es auch in der Mathematik selbst, etwa William Lawvere, von Hegel inspirierter Begründer der Topostheorie. Der US-Mathematiker wehrte sich gegen das Ansinnen seiner Zunft, Logik und Geometrie als scharf getrennte Bereiche aufzufassen. „Da er Hegel-Leser war, dachte er, dass diese Unterscheidungen natürlich ineinander übersetzbar sind, wenn man sie nur weit genug treibt – und er hat das demonstriert“, so Dath. Zwischen verschiedenen Formen von Wahrheit – seien es Logik und Geometrie oder Rationalismus und Empirismus – gebe es „Kabel, die die Wahrheit leiten wie Stromkabel Strom. Dass es solche Kabel geben muss, und dass da Strom läuft und Spannung anliegt und Spannendes passiert, das ist die Kernbehauptung Hegels.“