Die schwedische und die EU-Flagge vor dem schwedischen Parlament.
AFP/JONATHAN NACKSTRAND
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Schweden

Mit Langfristigkeit zu weniger Infektionen

Kein Lockdown, wenige Verbote, viel Eigenverantwortung – und fast achtmal so viele Todesopfer wie im ähnlich großen Österreich: Der schwedische Weg in Sachen Coronavirus ist noch immer umstritten. Aktuell könnte die eingeschlagene Strategie aber erste positive Ergebnisse zeigen.

Schweden testet mehr als Österreich, verzeichnet aber mit zuletzt durchschnittlich 300 neuen Meldungen pro Tag deutlich weniger positive Tests. Auf 100.000 Einwohner über die letzten 14 Tage gerechnet verzeichnete Schweden 36 positive Tests, in Österreich waren es laut Auswertung des European Centre for Disease Prevention and Control durchschnittlich 109,5. Auch die Lage in Krankenhäusern und Intensivstationen ist relativ entspannt, wie ein Blick auf das schwedische Corona-Dashboard zeigt: Zwischen einem und maximal vier Fälle in der Intensivstation gab es seit Mitte August pro Tag.

Die schwedische Strategie sei immer langfristig angelegt gewesen, betonen die nationalen Epidemiologen immer wieder – nun würde sie erste Früchte tragen. Der Knackpunkt sei die langfristige Verhaltensänderung der Menschen, so Thomas Czypionka, Experte für Gesundheitspolitik am Institut für höhere Studien, im Ö1 Interview: „Die Leute haben sich stärker an die Maßnahmen gewöhnt, weil sie zwar mit sanftem Druck, letztlich aber doch freiwillig mitgemacht haben.“

Ein Schild mit dem Porträt von Schwedens „Staatsepidemiologen“ Anders Tegnell fordert die Menschen beim Eingang zu einem Restaurant auf, sich die Hände zu waschen.
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Es gab und gibt in Schweden nur wenige Bereiche, die mit Ver- und Geboten geregelt wurden, etwa Pflege- und Altenheime, Krankenhäuser und Veranstaltungen. Für die meisten übrigen Bereiche wurden Empfehlungen ausgesprochen. In anderen Ländern, auch in Österreich, habe man hingegen auf strenge Vorgaben für sehr viele Lebensbereiche gesetzt, so Czypionka: „Das hat dazu geführt, dass viele Menschen gewartet haben, bis die Regelungen endlich aufgehoben werden. Und dann ist das Leben wie vorher weitergegangen. Man wird leichter unvorsichtig.“

Schwere Fehler zu Beginn der Pandemie

Zu Beginn der Pandemie habe man in Schweden große Fehler gemacht, weil man die Pflege- und Altenheime zu wenig gesichert habe, so Czypionka. Knapp 6.000 Menschen sind in Schweden mit Covid-19 verstorben, das Besuchsverbot für Alten- und Pflegeheime, das gezielte Testen des Personals sei zu spät gekommen.

Ö1 Sendungshinweis:

Über das Thema berichtet auch Wissen Aktuell am 24.9.2020 um 13.55 Uhr.

Das Virus kursierte aber nicht nur im März, sondern auch in den Monaten danach in Schweden stärker als in anderen Ländern, und auch das hatte einen Effekt auf das Verhalten der Menschen: „Bei uns hat es einen kurzen Peak gegeben Mitte März, und dann war das Infektionsgeschehen sehr gut unterdrückt, aber die Leute haben auch gesagt: Die Überlastung der Betten und die vielen Todesfälle – das ist alles nicht eingetreten, also kann es nicht so schlimm sein.“

Kaum Mund-Nasen-Schutz

Hingegen war das Infektionsgeschehen in Schweden immer präsenter, das Bewusstsein, dass das Virus noch immer da ist, blieb in der Bevölkerung relativ hoch, wodurch auch Empfehlungen zum Abstand halten und zur Kontaktreduktion leichter eingehalten werden konnten. Mund-Nasen-Schutz war in Schweden abgesehen von sehr wenigen Bereichen kein Thema, weil – so die Begründung der Epidemiologen um Anders Tegnell – „die Evidenz für den Nutzen“ fehle. Vielmehr wurde die Gefahr gesehen, dass die „Maske“ eine Sicherheit vorspiegle, die so nicht vorhanden sei, und die Menschen dadurch nachlässig bei Abstand und Kontaktreduktion werden.

Strenger als in Österreich hingegen waren und sind die Vorgaben in Schweden bei Besuchen in Alters- und Pflegeheimen (das Besuchsverbot soll mit 1. Oktober erstmals gelockert werden) und bei Veranstaltungen, wo die Teilnehmerzahl seit März auf 50 Personen beschränkt war.

Keine endgültige Antwort

Derzeit ist man in Schweden angesichts der im Europavergleich niedrigen Zahlen zwar erleichtert, Entwarnung gibt es von offizieller Stelle aber keine. Dass zuletzt die Zahl der positiven Tests in Stockholm wieder leicht gestiegen ist, bereitete auch Anders Tegnell Sorge: „Wir müssen wohl mit Stockholm diskutieren, ob extra etwas getan werden muss.“ Empfehlen, beobachten und – wenn nötig – nachschärfen: Mit dieser seit März verfolgten Strategie hofft Schweden, den schwierigen Herbst und Winter gut zu überstehen.