Ein Mann steht unentschlossen mit dem Rücken zur Kamera vor einigen verschlossenen Türen
1STunningART – stock.adobe.com
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Wahrheit

Die Grenzen akademischen Zweifels

Die kritische Sozialforschung hat den Zweifel an wissenschaftlicher Wahrheit zum Hauptinstrument ihrer Kritik gemacht. In Zeiten „alternativer Fakten“ und Coronavirus-Leugner stößt dieser akademische Zweifel an seine Grenzen – er wurde von Demagogen übernommen, wie der Sozialwissenschaftler Franz Seifert in einem Gastbeitrag schreibt.

Inmitten der Coronavirus-Krise warnen Medien und Politik vor einer Bedrohung sozialer Art: Coronavirus-Leugnung. Die Weigerung, an die Realität und Gefährlichkeit der Pandemie zu glauben, manifestiert sich in Sozialen Netzwerken, organisierten Protesten, individuellen, manchmal unschön eskalierenden Verstößen im Alltag, im Gebaren mancher Staatsoberhäupter. Die Bewegung sorgt für Beunruhigung, da sie gesundheitspolitische Maßnahmen untergräbt, die die Kooperation aller erfordern, und in manchen Fällen auch aufgrund ihrer Nähe zu rechtslibertärem Gedankengut.

Franz Seifert
privat

Über den Autor

Franz Seifert ist Biologe und Sozialwissenschaftler. Er beschäftigt sich unter anderem mit Risikotechnologien und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft.

Expertendissens, Meinungsverschiedenheiten und Zweifel an der „offiziellen Wahrheit“ sind in einer pluralistischen Demokratie selbstverständlich und müssen es sein. Doch ist Coronavirus-Leugnung auch Teil eines problematischen Trends: des Platzgreifens von Kommunikations- und Politikstilen, die wissenschaftlich anerkannte, aber der eigenen Weltsicht widersprechende Fakten abtun, verdrehen, leugnen, um „Wahrheiten“ nach eigenem Belieben zu schaffen. Stichwort „postfaktisches Zeitalter“. Die aktuelle Brisanz des Verfalls einer allgemein akzeptierten Faktenbasis zugunsten polarisierender Meinungspolitik hängt somit mit dem Aufeinandertreffen von Pandemie und dem langfristigen, medialen und soziopolitischen Wandel westlicher Gesellschaften zusammen.

Ein Fall für die Wissenschaftsforschung?

Die Situation schreit nach Klärung. Prädestiniert dazu wäre eigentlich die Wissenschafts- und Technikforschung (besser bekannt als Science and Technology Studies, STS), denn im Zentrum ihres Interesses steht der soziale Kampf um die Wahrheit, genauer, ihrer Letztinstanz, der wissenschaftlichen Wahrheit. Solche Kämpfe finden laufend innerhalb der Wissenschaft statt, aber auch in politisierter Form als öffentliche Kontroversen um Technologie und Wissenschaft, etwa wenn es um die Toxizität von Produkten oder die ökologischen Folgen von Großprojekten geht.

Zur Analyse solcher Kontroversen hat die Wissenschafts- und Technikforschung einen Fundus an Kenntnissen und Konzepten entwickelt. Doch die tonangebenden, „kritischen“, das heißt an Gesellschaftsveränderung interessierten Positionen geraten damit in der gegenwärtigen Situation in Schwierigkeiten. Das hängt mit der Schlüsselstrategie ihrer Kritik zusammen, der Kultivierung des Zweifels.

Wissenschaft wird sozial gemacht

Historisch entwickelten sich diese Positionen aus zunächst rein akademischen Studien, die die „soziale Konstruktion“ wissenschaftlicher Erkenntnis untersuchten, also analysierten, was beispielsweise in Labors oder bei Experimentalanordnungen „gemacht“ wird. Das Neue an dieser Forschung war die Einsicht, dass wissenschaftliche Erkenntnis nicht das Resultat universeller, abstrakter Logiken, sondern sehr konkreter, alltagsnaher Vorgänge und sozialer Übereinkünfte ist. Mit dem Aufzeigen der sozialen „Gemachtheit“ wissenschaftlichen Wissens war freilich der Zweifel an dessen objektiver Gültigkeit festgeschrieben.

Seither machte das Feld eine enorme Expansion, Diversifikation und vor allem Politisierung durch. Die Wissenschafts- und Technikforschung wurde zunehmend „kritisch“. Hauptinstrument dieser Kritik blieb die konstruktivistische Perspektive, denn zu zeigen, wie Wahrheit „gemacht“ wird, entlarvt Politik und Herrschaft, die sich hinter dieser Wahrheit verbirgt.

Coronavirus-Demonstration Ende August in Berlin
AFP – JOHN MACDOUGALL
Coronavirus-Demonstration Ende August in Berlin

Mehr Kritik, mehr Demokratie

Gängige Beispiele wären etwa die Legitimierung industrieller Macht – verengt auf rechtliche Normen von Produktsicherheit, oder auf Psychiatrie und Medizin gestützte disziplinierende Ordnungen. Der nicht zuletzt aufgrund seiner medizinischen Begründung relativ leicht durchsetzbare Lockdown der jüngsten Vergangenheit hat uns alle miterleben lassen, wie real solche Ordnungen sind.

Da die kritische Wissenschafts- und Technikforschung nicht auf Durchsetzung, sondern Veränderung abzielt, ist für sie der feststellbare Autoritätsverlust der Wissenschaft nicht das Problem. Vielmehr sieht sie im Brüchigwerden von Legitimität auf Basis wissenschaftlicher „Tatsachen“, deren permanenter Umstrittenheit, eine Chance – zu Öffnung und Transparenz, Diskurs und Reflexion. Die Demontage der Autorität der Wissenschaft geht einher mit der Demokratisierung von Wissenschaft und somit einer weiteren „Demokratisierung der Demokratie“.

Zweifel wird zum Fallstrick

Wenn sich die kritische Wissenschafts- und Technikforschung gegenwärtig daranmacht, das sich mit Corona auftuende Spannungsfeld von Gesellschaft und staatlicher sowie wissenschaftlicher Autorität auszuleuchten, ist indes fraglich, inwieweit sie an diese Paradigmen der vergangen Jahrzehnte anschließen kann. Der Grund: Die Akteure und Gegnerschaften der „Wahrheitskriege“ unserer Tage sind andere geworden. Der Zweifel an der offiziellen, wissenschaftlich beglaubigten Wahrheit, zuvor als Chance zur Demokratisierung der Demokratie begrüßt, scheint ihr heute zum Fallstrick zu werden.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmete sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell am 14.10., 13.55 Uhr.

Denn in den großen „Wahrheitskriegen“ unserer Tage hinterfragen und dekonstruieren „die anderen“ – die Esoteriker, Ultrakonservativen, Rechtsextremen, Demagogen. Nun sind sie es, die sich die – ja nie abschließbare – Bezweifelbarkeit wissenschaftlicher Theorien und Fakten zunutze machen, um Evolutionstheorie, den industriell bedingten Klimawandel, den Nutzen von Schutzimpfungen oder die Gefährlichkeit des Coronavirus in Zweifel zu ziehen.

Ironischerweise prangern auch sie damit die Macht von Staat, Medien und Eliten an, in ähnlicher antiautoritärer Empörung wie die akademischen Wahrheitskritiker. Aus deren Sicht wiederum ist das emanzipatorische Potenzial des Zweifels zur antiaufklärerischen Verwirrtaktik verkommen.

Erfolgsjahre in Europa, Schock in den USA

Bemerkenswert ist, dass sich diese Wende zu einem Zeitpunkt vollzieht, da sich der politische Einfluss der kritischen Wissenschafts- und Technikforschung bereits deutlich abzeichnet. In der EU ist mittlerweile vieles an akademischer Kritik Bestandteil etablierter politischer Programmatik, auch im Bereich Wissenschaft und Innovation. Als größter Erfolg des vergangenen Jahrzehnts gilt die Integration der Sozialwissenschaften in EU-Forschungs- und Innovationsprogramme im Rahmen des Programms „Verantwortliche Forschung und Innovation“. Ihre Aufgabe: Forschung und Entwicklung für „gesellschaftliche Werte“ zu öffnen.

In den USA wiederum sind die Science and Technology Studies an zahlreichen Universitäten etabliert, ihre kritischen Schulen international tonangebend. Für sie aber kam Donald Trumps Präsidentschaft als Schock. Plötzlich war alles anders. Mit einem Mal galt es, die bisher so kunstvoll zerlegte Wissenschaft zu verteidigen – gegen den Abbau missliebiger Experten in Behörden etwa oder ihre polemische Destruktion durch „Post-Truth“-Akteure in der Öffentlichkeit. Eine Welle fachinterner Selbsthinterfragung folgte und dauert an.

Donald Trump bei einer Wahlveranstaltung, auf einem Plakat steht „Buy American“
AFP – MANDEL NGAN
Donald Trump – Vorkämpfer „alternativer Fakten“

Zerfall von „Wahrheit“ wird zum Problem

Die intellektuelle Reaktion ist lesenswert, vor allem wenn sie sich an die Durchleuchtung der neuen „Post-Truth“-Welt macht. Dass aus ihr eine wesentliche Umorientierung folgt, ist aber fraglich. Prominente Reaktionen arbeiteten sich etwa an der Frage ab, ob die akademische Kritik an der Umkehrung des Zweifeldiskurses Mitschuld trägt, um zu folgern, dass dem nicht so sei. Doch fragt sich, ob es für Verdrehen und taktisches Bezweifeln von Fakten der akademischen Unterweisung bedarf. Diese wohl uralten Manöver können von jeder beliebigen Gruppierung kultiviert und instrumentalisiert werden.

Die Pandemie, aber auch die heillos polarisierte politische Landschaft der USA und ein von Falschmeldungen überfluteter Wahlkampf führen vor Augen, dass der Zerfall eines Grundkonsenses zur Wahrheit für eine Demokratie zum Ordnungsproblem werden kann. Das Problem der Kritik wiederum scheint darin zu bestehen, dass sie diese Ordnung bisher entweder als selbstverständlich oder illegitim, weil im Dienst übermächtiger Interessen, auffasst.

Grenzen konstruktivistischer Kritik

Nun ist die Feststellung, dass wissenschaftliche Wahrheit in vielfältiger Weise mit Politik und Macht verflochten ist, völlig richtig. (Und gilt übrigens auch für die Sozialwissenschaften selbst, die sich aber höchst selten in den Fokus ihrer eigenen Kritik nehmen.) Kritische Analyse ist daher mehr als gerechtfertigt. Wenn aber die angestrebte Demokratisierung der Wissenschaft ausschließlich Abbau und Relativierung wissenschaftlicher Autorität meint, setzt das in letzter Konsequenz wissenschaftliche Expertise (inklusive die der Sozialwissenschaften) mit Alltagsdenken gleich, überantwortet jeglichen Entscheidungsprozess, mag er noch so „technisch“ sein, allein politischen Interessen und erstickt jede faktenbasierte Argumentation in öffentlichen Debatten. Hier werden die Grenzen einer engagierten, konstruktivistischen Kritik wissenschaftlicher Wahrheit deutlich.

Europa: Ungewisse Zukunft

In Europa sieht sich die kritische Wissenschafts- und Technikforschung nicht der gleichen Dramatik eines postfaktischen Zeitalters ausgesetzt wie in den USA. Indes blicken die Pläne, die kritischen Sozialwissenschaften in den Wissenschafts- und Innovationsbereich zu integrieren, in eine ungewisse Zukunft. Das EU-Programm „Verantwortliche Forschung und Innovation“ wurde (zumindest in dieser Form) nicht fortgesetzt, und das bereits vor der Coronavirus-Krise mit ihren absehbaren budgetären Folgen. Der Bedarf nach kritischem Forschen und Nachdenken über die knifflige Wahrheitsfrage besteht freilich mehr denn je.