FRau liegt im Bett und hält die Hände vors Gesicht
terovesalainen – stock.adobe.com
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Pandemische Alpträume

Für viele Menschen war der Lockdown im Frühjahr ein Alptraum – durchaus im Wortsinn, wie finnische Psychologinnen jetzt in einer Studie nachweisen: Die Pandemie entwickelt im Schlaf ein düsteres Eigenleben.

Sechs Wochen – also ähnlich lange wie in Österreich – dauerte der Lockdown in Finnland. Um mehr über die Träume ihrer Landsleute während dieser Zeit zu erfahren, startete Anu-Katriina Pesonen ein Crowdsourcing-Experiment mit Hilfe von „Helsingin Sanomat“, der größten Tageszeitung des Landes.

Die veröffentlichte in der letzten April-Woche auf ihren Wissenschaftsseiten einen Artikel über Stress und Alpträume – sowie einen von Pesonen gestalteten Fragebogen, auf dem die Leser und Leserinnen über ihre eigenen Erfahrungen Auskunft geben konnten. 4.000 berichteten über ihre Schlafqualität während des Lockdowns, 800 davon auch über den Inhalt ihrer Träume.

Traumdeutung mit Künstlicher Intelligenz

Bei der Analyse betrat Pesonen methodisches Neuland. Anstatt die Erfahrungsberichte qualitativ auszuwerten, wie in der Psychologie üblich, übersetzte sie die Trauminhalte in eine chronologische Stichwortliste.

„Ich hatte Tuberkulose, und der Doktor war böse auf mich, weil ich nicht schon bei den ersten Symptomen gekommen war“, wurde etwa zu „Tuberkulose-Doktor-Ärger-Symptome“. Dieses Rohmaterial speiste Pesonen dann in ein lernfähiges Programm, das die Stichworte in thematische Cluster ordnete. Was die finnische Forscherin nun im Fachblatt „Frontiers in Psychology“ vorstellt, ist im Grunde computerunterstützte Traumdeutung. Wo sich Sigmund Freud noch auf die Suche nach Urmotiven im Unbewussten machte, setzt Pesonen nun auf Netzwerktheorie und Künstliche Intelligenz.

„Wir reduzieren den Inhalt der Träume auf ein Skelett und arbeiten mit Traumpartikeln statt mit Geschichten. Der Vorteil dieser Methode ist, dass wir auf diese Weise Gemeinsamkeiten besser herausschälen können. Wenn Menschen durch ähnliche Umstände belastet sind, dann träumen sie auch ähnlich. Träume sind nicht so privat, wie wir glauben“, sagt Pesonen im Gespräch mit science.ORF.at.

Kollektive Ängste

Dieses Nicht-Private machte die Analyse sichtbar, Ergebnis: Die Pandemie hatte im kollektiven Seelenleben nachhaltig Eindruck hinterlassen, von 33 errechneten Themenclustern fielen knapp zwei Drittel in die Kategorie „Alpträume“. Und von diesen hatten 55 Prozent mit dem Coronavirus und dem Lockdown zu tun. Flucht, verbotene Berührungen und Infektionen waren Motive, die in den Träumen immer wieder auftraten. „Die letzte April-Woche war der Höhepunkt der kollektiven Verunsicherung. Ich gehe davon aus, dass die Finnen mittlerweile etwas entspannter mit der Pandemie umgehen.“

Auf die leichte Schulter zu nehmen seien ihre Resultate gleichwohl nicht, betont Pesonen. Denn Alpträume seien ein verlässlicher Hinweis auf Ängste und posttraumatischen Stress. Medien empfiehlt die finnische Psychologin daher, sich in der Wortwahl zu mäßigen und vor allem auf apokalyptische Darstellungen zu verzichten. Und die Politik? Für die gelte das Gleiche, sagt Pesonen, nur: Am Krisenmanagement ihrer Regierung habe sie nichts auszusetzen. „Bei uns hat es keine Angstrhetorik gegeben.“

Szenenwechsel: Österreich Mitte September. Forscher der Sigmund Freud Privatuniversität haben eine Gallup-Umfrage an 1.000 Personen ausgewertet und kommen zu dem Schluss: Die Stimmung im Land ist schlecht, die Menschen sind verunsichert. Bei einem Viertel der österreichischen Bevölkerung könne man gar von einer „psychosozialen Pandemie“ sprechen, die sich im Klima der Angst entwickelt habe.