Ein Kind blickt stumm durch ein Fenster
altanaka – stock.adobe.com
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Selektiver Mutismus

Wenn Kinder schweigen

Leiden Kinder unter Selektivem Mutismus, bleiben sie in vielen Lebensbereichen völlig stumm, sprechen in anderen aber ganz normal. Neue Therapiemethoden mit Handpuppen, Musik und Tieren machen die Angststörung aber gut behandelbar.

Selektiver Mutismus ist eine Entwicklungsstörung, die in der Kindheit auftritt. Sie äußert sich in umfassender Sprachlosigkeit in bestimmten Situationen, wobei die Kinder in anderen Situationen – meist zu Hause oder im Umgang mit vertrautesten Bezugspersonen – sehr gut und verständlich sprechen können. Sie sind in ihrer sonstigen Entwicklung unauffällig und durchschnittlich oder überdurchschnittlich intelligent.

Verschiedene Zeitpunkte des Auftretens

Die Störung ist psychosozialer Art: Die Kinder sprechen mit niemandem, der nicht zu ihren unmittelbaren Bezugspersonen gehört. Mutismus kann schon sehr früh in der Entwicklung auftreten („Frühmutismus“) und sich im Zuge des Spracherwerbs manifestieren: Die betroffenen Kinder sprechen vom Beginn der Sprachentwicklung an nie mit Menschen außerhalb ihrer Familie, auch nicht im Kindergarten oder in der Schule.

Der „Spätmutismus“ tritt oft in der Volksschule oder Frühpubertät ein. Kinder, die vorher normal kommuniziert haben, verstummen plötzlich. Sehr selten tritt der „Totale Mutismus“ auf: Bei intakter Hörfähigkeit sprechen die Kinder mit niemandem, auch nicht mit nahen Angehörigen. Sie vermeiden jede Art der Lautäußerung wie Husten, Niesen oder Räuspern in Anwesenheit anderer. Der Totale Mutismus ist oft eine Begleiterscheinung einer psychischen Erkrankung.

Keine genauen Daten zur Verbreitung

Früher war in der Fachliteratur häufig von „Elektivem Mutismus“ die Rede – diese Bezeichnung wurde in den letzten 40 Jahren jedoch durch die Bezeichnung „Selektiver Mutismus“ abgelöst, da „elektiv“ suggeriert, dass die Kinder bewusst auswählen, mit wem sie sprechen und mit wem nicht. Heute ist klar, dass dem Mutismus eine Angststörung zugrunde liegt, die den Kindern jede freie Wahl nimmt. Sie verstummen aus Angst, versteinern förmlich, wenn sie angesprochen werden und erstarren in der Interaktion mit anderen.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Selektiven Mutismus widmen sich auch die Dimensionen, 28.9., 19:05 Uhr, und Wissen aktuell: 28.9., 13:55 Uhr.

Literatur

Nitza Katz-Bernstein, Selektiver Mutismus bei Kindern. Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie, 5. Auflage, Ernst Reinhardt Verlag München 2019

Selektiver Mutismus hat in der Gesamtbevölkerung eine Prävalenz von 0,5 – 2,2 Prozent. Die Angabe ist sehr ungenau, weil es keine umfassenden Studien zur Häufigkeit von Selektivem Mutismus gibt. Die Störung wird außerdem oft spät entdeckt, was die Statistik verzerrt. Sicher ist: Mutismus kommt bei Mädchen häufiger vor als bei Buben.

Soziale, gesundheitliche und psychische Folgen

Die sozialen Folgen für vom Mutismus betroffene Kinder sind beträchtlich: Sie können keine Wünsche und Bedürfnisse äußern, nicht von Kummer, Schmerz und Trauer berichten. Sie sind aus der Gruppe der Peers ausgeschlossen und können keine Freundschaften eingehen – kurz: Sie sind von vielen wesentlichen Aspekten der Kindheit ausgeschlossen, speziell wenn sie eine Betreuungseinrichtung besuchen.

Über den Tag hinweg stauen sich viele Emotionen an, die sich nach der Rückkehr des Kindes zur Familie heftig entladen können: Viele mutistische Kinder sprechen abends zu Hause ununterbrochen, sie berichten von den Vorfällen in Kindergarten oder Schule, spielen manche Situationen nach und durchleben Emotionen, die sie tagsüber unterdrücken mussten, erneut. Zorn, Trauer und Frustration über das Ausgeschlossensein können sich in heftigen Wut- und Schreianfällen entladen – eine große Belastung für die betroffenen Familien.

Mutistische Kinder haben wenig Gelegenheit ihre sprachlichen Fähigkeiten zu üben, mit Sprache zu spielen oder sie spontan einzusetzen. Sie sind sozial isoliert und leiden unter Einsamkeit. Bei fehlender Therapie leidet ihre kognitive Entwicklung.

Ein Kind auf einem Pferd wird gezogen von einem Hippotherapeuten
AFP – INTI OCON
Hippotherapie ist eine geeignete Therapieform

In der Schule ergeben sich weitere Probleme: Wie kann der Lernfortschritt eines Kindes gemessen werden, das nicht mit den Lehrkräften spricht und in der Klassengemeinschaft weitgehend isoliert ist?

Hier helfen elektronische Medien: Leseübungen können zu Hause aufgezeichnet und an die Lehrkraft übermittelt werden. Dasselbe gilt für Referate. Prüfungen können schriftlich abgehalten werden. Gleichzeitig müssen Schule und Familie Anreize setzen, damit das Kind seine Scheu vor der Kommunikation verliert.

Logopädie mit Handpuppen

Häufig wird die Mutismus-Störung eines Kindes spät erkannt: Zu Hause kommuniziert das Kind ja normal, seine Sprachentwicklung und Interaktion mit anderen ist unauffällig. Die Kinder gelten meist als schüchtern und gehemmt – oft werden ihre älteren Geschwister ihre Sprachrohre.

Sobald der Verdacht im Raum steht, dass die Sprachentwicklung des Kindes im Bereich außerhalb der Familie reduziert, gehemmt und verzögert ist, sollte das Kind bei einer Entwicklungspsychologin getestet werden. Wenn die Diagnose „Mutismus“ vorliegt, gibt es zahlreiche Möglichkeiten zur Therapie:

Gesprächstherapie ist bei jungen Kindern ab drei Jahren wenig sinnvoll – vor allem, wenn sie nicht mit der Therapeutin sprechen. Die Behandlung von Kindern mit Mutismus erfolgt daher überwiegend in einer logopädischen Praxis. Dort muss zunächst ein „Safe Place“, also ein sicherer Ort geschaffen werden, um dem Kind die Angst zu nehmen. Die erste Phase der Therapie kann sehr lange dauern: Sie endet, sobald das Kind bereit ist, mit der Therapeutin allein zu sein und die Eltern im Vorraum bleiben.

Die Therapiearbeit ist offen, flexibel und kreativ: Die Therapeutin setzt Handpuppen ein, die die Rolle eines Beobachters einnehmen: Sie können lustig, frech und von einer Metaebene aus kommentieren, was in der Therapie passiert. Oft schafft dies Vertrauen bei den Kindern, die die Puppen lustig und anregend finden.

Musik und Tiere

Außerdem werden Musik- und Percussion-Instrumente angeboten und die Kinder ermutigt, mit allen Sinnen zu kommunizieren: Tanz, Pantomime, Gestik, Mimik und Grimassen sowie Lautäußerungen sind Schritte zur Sprache.

Als vorteilhaft hat sich der Einsatz von tiergestützter Therapie erwiesen: Mutistische Kinder haben oft Empathie und Geschick im Umgang mit Tieren. Wenn die Möglichkeit besteht, kann man ihnen ein Haustier als Gefährte zur Seite stellen. Zum Erlernen von Grundvertrauen eignet sich auch Hippotherapie, in der die Kinder lernen, sich dem Pferd anzuvertrauen und sich tragen zu lassen.

Die Therapie von Selektivem Mutismus ist überwiegend erfolgreich. Innerhalb von zwei Jahren erlernen die meisten Kinder, mit Menschen außerhalb ihres Familienverbands zu sprechen und zu interagieren. Häufig bleibt nichts von der Störung zurück und die weitere Entwicklung des Kindes verläuft normal.

Es gibt aber auch Fälle, in denen dem Mutismus ein Trauma oder eine psychische Erkrankung zugrunde liegt. In diesen Fällen beginnt die eigentliche Therapiearbeit, sobald das Kind gelernt hat, sich durch Sprache mitzuteilen.