Bundesverfassung
ÖNB
ÖNB
Bundesverfassung

Vorbild seit 100 Jahren

Trotz großer Gegensätze der beiden Großparteien ist es dem Rechtswissenschaftler Hans Kelsen vor 100 Jahren gelungen, Österreich eine Bundesverfassung zu geben. Sie gilt nicht zuletzt wegen der Einrichtung eines Verfassungsgerichtshofs als Vorbild, wie der Rechtshistoriker Thomas Olechowski zum Jubiläum in einem Gastbeitrag schreibt.

Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) feiert am 1. Oktober 2020 seinen hundertsten Geburtstag. Wenn man die Verfassungen Europas chronologisch reiht, steht die österreichische Verfassung, nach jenen Norwegens, Dänemarks und der drei Beneluxstaaten, an sechster Stelle. Und da es sich bei den übrigen genannten Staaten um Monarchien handelt, ist das B-VG die älteste noch in Kraft befindliche republikanische Verfassung unseres Kontinents.

Porträtfoto Thomas Olechowski
Agnes Stadlmann

Über den Autor:

Thomas Olechowski ist Professor für Rechtsgeschichte an der Uni Wien. Seine Biografie über Hans Kelsen ist vor Kurzem im Verlag Mohr Siebeck erschienen (Leseprobe).

Aus fremd gewordener Zeit

Die Entstehung des B-VG fiel in eine Zeit, die uns fremd geworden ist. Und dies nicht nur deshalb, weil es 1920 weder Fernsehen noch Handy gab, sondern weil auch das politische und gesellschaftliche Denken in gänzlich anderen Kategorien als heute verlief. Dass die republikanische Bundesverfassung Angehörige ehemals regierender Häuser von der Wählbarkeit für das Amt des Bundespräsidenten ausschloss, war für damalige Verhältnisse eine Selbstverständlichkeit; dass es an anderer Stelle die Gleichberechtigung von Mann und Frau festschrieb, war dagegen alles andere als selbstverständlich, sondern eine geradezu revolutionäre Bestimmung, deren Tragweite freilich erst Jahrzehnte später voll ausgeschöpft wurde. Nur schwer nachzuvollziehen sind heute noch die tiefen ideologischen Gräben, die zwischen der sozialdemokratischen und der christlich-sozialen Partei verliefen und einen Verfassungskonsens schier unmöglich machten. Fremd ist uns auch das seinerzeitige Zweifeln an der Lebensfähigkeit der kleinen österreichischen Republik geworden und der fast einstimmige Wunsch der Bevölkerung, sich an Deutschland anzuschließen.

Dieser „Anschlusswunsch“ war, so schien es den Zeitgenossen, logische Folge des Zerfalls der Habsburgermonarchie 1918, die jahrhundertelang einen Wirtschafts- und Kulturraum für einen großen Teil Europas geboten hatte. Die europäische Staatenordnung, die nach dem Ersten Weltkrieg mit den Pariser Friedensverträgen (Versailles, St. Germain, Neuilly, Trianon, Sèvres) geschaffen worden war, wurde von Anfang an heftig bekämpft; die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, die „Zwischenkriegszeit“, war keine Zeit des Friedens, sondern des Kampfes. Grenzkonflikte, Putschversuche, Bürgerkriege waren an der Tagesordnung, der 1919 zur Erhaltung des Friedens geschaffene Völkerbund scheiterte praktisch an allen Fronten.

Kelsen war Architekt, nicht Bauherr

In der Zeit des Umbruches waren es vor allem die Länder gewesen, die für Stabilität gesorgt und den Verwaltungsapparat der k.k. Monarchie übernommen hatten. Dieser bedeutende Machtgewinn, den die – vor 1918 so gut wie machtlosen – Länder damit erfuhren, war ausschlaggebend dafür, dass Staatskanzler Karl Renner im Mai 1919 dem Wiener Universitätsprofessor Hans Kelsen den Auftrag erteilte, eine „Bundesstaatsverfassung“ auszuarbeiten. „Richtschnur war mir dabei“, so Kelsen später, „alles Brauchbare aus der bisherigen Verfassung“ – der sog. Dezemberverfassung des Jahres 1867 – „beizubehalten, die Kontinuität der verfassungsrechtlichen Institutionen möglichst zu wahren, das bundesstaatliche Prinzip in das schon Bestehende und Bewährte gleichsam einzubauen und mich dabei … an die schweizerische, aber mehr noch an die neue deutsche Reichsverfassung anzulehnen.“

Kelsen um das Jahr 1930
Anne Feder Lee
Kelsen um das Jahr 1930

Schon wenige Wochen später präsentierte er seinen ersten Entwurf, den er noch mehrmals abänderte, um verschiedenen politischen Wünschen Rechnung zu tragen. Kelsen schrieb also nicht eine Verfassung nach seinem eigenen Wunschdenken, sondern wandelte die politischen Wünsche seiner Auftraggeber, insbesondere Renners, in konkrete Normtexte um; seine Aufgabe gleicht der eines „Architekten“, der die Baupläne entsprechend der Wünsche seines Bauherren gestaltet, dabei immer wieder seine eigene Genialität zur Geltung bringen kann, sich aber letztlich den Anweisungen seines Bauherrn fügen muss.

So wurden denn auch Kelsens Verfassungsentwürfe sowohl von Sozialdemokraten wie von Christlichsozialen und vor allem auch von den Ländervertretern als taugliche Diskussionsgrundlage angenommen, und schon bald kreisten die Verfassungsdiskussionen um einige wenige, fest umrissenen Problemfelder. Diese aber schienen so gut wie unlösbar: Welche Kompetenzen sollten dem Bund, welche den Ländern zukommen? Welche Macht sollte der Bundespräsident, welche der Bundesrat haben? Und vor allem: Wollte man den alten Grundrechtskatalog von 1867 fortführen oder diesen entscheidend modernisieren? Besonders diese letzte Frage war stark ideologisch aufgeladen, ging es doch den Sozialdemokraten beispielsweise um eine Beseitigung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, den Christlichsozialen um eine Beibehaltung des bestehenden Verhältnisses zwischen Staat und Kirche.

Einigung trotz aller politischen Gegensätze

Es ist seltsam genug, dass Sozialdemokraten und Christlichsoziale trotz aller Gegensätze fast eineinhalb Jahre lang in einer Großen Koalition zusammen regiert hatten; im Juni 1920 zerbrach diese, Neuwahlen wurden für den 17. Oktober ausgeschrieben. Und ausgerechnet in dieser Situation einigten sich der Sozialdemokrat Otto Bauer und der Christlichsoziale Ignaz Seipel, über den Sommer – mitten im Wahlkampf! – die Verfassung fertigzustellen; auch sie wurden dabei von Kelsen legistisch unterstützt.

Aber auch sie wären gescheitert, hätten nicht die beiden Parteivorstände am 18. September 1920 beschlossen, all jene Punkte, über die keine Einigkeit gefunden werden hatte können, vorläufig auszuklammern und hier den Rechtszustand der Monarchie vorläufig beizubehalten. (Es ist typisch für politisches Handeln, dass zwar die meisten Verfassungsdiskussionen in hunderten Protokollseiten diverser Gremien und Ausschüsse dokumentiert sind, dass es aber für die Parteienübereinkunft vom 18. September kein derartiges Protokoll, sondern nur Berichte aus späterer Zeit gibt.)

Kelsen mit seiner Frau Margarete ca. im Jahr 1935
Anne Feder Lee
Kelsen mit seiner Frau Margarete ca. im Jahr 1935

Das am 1. Oktober 1920 beschlossene „Gesetz, mit dem Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird (Bundes-Verfassungsgesetz)“ war also von Anfang an ein Torso, neben dem noch viele ältere Bestimmungen aus der Zeit der Monarchie und den ersten Monaten der Republik fortgalten. Manche noch bestehende Lücke konnte schon bald geschlossen werden, die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern im Bereich des Schulwesens erst 1962. Die Grundrechte sind – mit Ausnahme des erwähnten Grundsatzes der Gleichheit aller Bundesbürger und Bundesbürgerinnen vor dem Gesetz – bis heute nicht im B-VG, sondern im Staatsgrundgesetz von 1867 geregelt.

Die Frage einer Modernisierung des Grundrechtskataloges hat allerdings heute an Aktualität verloren, da Österreich 1958 der Europäischen Menschenrechtskonvention beigetreten ist und seit 2010 auch die Europäische Grundrechtecharta als verbindlich anerkennt und somit ein im internationalen Vergleich außerordentlich hohes Niveau an Grundrechten besitzt.

Bewundert wurde die österreichische Verfassung insbesondere für seinen Verfassungsgerichtshof, der in seiner Art weltweit einzigartig war und zum Vorbild für viele andere Verfassungsgerichte auf der Welt wurde. Er ist einer der Hauptgründe dafür, weshalb Hans Kelsen, der als sein Schöpfer angesehen wird, bis heute von Juristen aller Kontinente gelesen wird uns seine Bücher in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden.

“Demokratie gegen Willen der Mehrheit keine Demokratie“

1932, kurz nachdem die Nationalsozialisten die demokratischen Reichstagswahlen in Deutschland klar für sich entschieden hatten, erhob Kelsen die rhetorische Frage, „ob die Demokratie sich nicht selbst verteidigen soll, auch gegen das Volk, das sie nicht mehr will. … Diese Frage stellen, heißt schon, sie verneinen. Eine Demokratie, die sich gegen den Willen der Mehrheit zu behaupten, gar mit Gewalt sich zu behaupten versucht, hat aufgehört, Demokratie zu sein.“

Diese kompromisslos-demokratische Haltung Kelsens wurde von vielen als eine Kapitulation vor den antidemokratischen Kräften jener Zeit gesehen, die nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich und in vielen anderen europäischen Staaten auf dem Vormarsch waren und überall das Vertrauen der Bevölkerung in die demokratischen Strukturen ihres Staates untergruben. 1929 hatte ein gewaltsamer Umsturz durch die Heimwehren in Österreich noch abgewehrt werden können, indem sich die beiden großen Parteien noch einmal gemeinsam zu einer tiefgreifenden Verfassungsreform aufgerafft hatten. Doch schon wenige Jahre später wurden sowohl der Nationalrat als auch der Verfassungsgerichtshof von der Regierung Dollfuß lahmgelegt; das Bundes-Verfassungsgesetz wurde mit Wirkung vom 30. Juni 1934 außer Kraft gesetzt. Es folgten elf Jahre Diktatur, zunächst jene des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes (1934–1938), dann jene des Nationalsozialismus (1938–1945).

Erst im Mai 1945 erfolgte die Wiederinkraftsetzung des B-VG durch die Provisorische Staatsregierung unter Karl Renner. Seitdem ist es die verfassungsrechtliche Basis der Zweiten Republik und wurde mittlerweile so oft abgeändert, dass heute nur mehr wenige Artikel der Urfassung – konkret: die Artikel 1, 4, 22, 25, 33, 45, 58, 63, 76, 81, 84, 90, 91, 143 und 145 – völlig unverändert in Kraft geblieben sind. Wirklich große Umgestaltungen blieben aber selten; eine „Gesamtänderung“, die eine Volksabstimmung erheischte, gab es beim EU-Beitritt 1995. Noch immer ist die ursprüngliche Architektur gut erkennbar, „atmet“ die Bundesverfassung nach wie vor die schöpferische Kraft Hans Kelsens.

Mehr zu dem Thema: