Mann in Schutzkleidung
AFP/CHANDAN KHANNA
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Übersterblichkeit

USA: Ein Drittel starb nicht an Covid-19

Heuer werden in den USA laut einer neuen Studie über 400.000 Menschen mehr sterben als in den vergangenen Jahren. Diese Übersterblichkeit ist direkte oder indirekte Folge der Coronavirus-Pandemie. Allerdings: Ein Drittel der zusätzlichen Todesfälle ist nicht nachweislich auf das Virus zurückzuführen.

Wie schwer die USA von der Pandemie betroffen ist, zeigen die aktuellen Berechnungen der Forscherinnen und Forscher um Steven H. Woolf von der Virginia Commonwealth University School of Medicine in ihrer soeben im „Journal of the American Medical Association“ (JAMA) erschienenen Studie.

Sie haben auf Basis der bis heute verfügbaren US-Daten für den Zeitraum zwischen 1. März und 1. August die sogenannte Übersterblichkeit berechnet. Diese Zahl gibt an, um wie viel mehr Menschen im Vergleich zu den vergangenen Jahren gestorben sind. Demnach sind in den fünf Monaten 225.530 mehr US-Bürgerinnen und Bürger gestorben als sonst. Das sind 20 Prozent mehr als im jahrelangen Durchschnitt. Hochgerechnet auf das ganze Jahr könnten es am Ende mehr als 400.000 Tote sein. Schon lange hat kein einzelnes Ereignis dem Land so viele Menschenleben gekostet. Zum Vergleich: Im Zweiten Weltkrieg haben knapp 405.400 US-Soldaten ihr Leben verloren.

Mehr Herz- und Demenztote

Etwa 67 Prozent der zusätzlichen Todesfälle lassen sich auf Basis der derzeitigen Datenlage direkt auf Covid-19 zurückführen: Menschen, die nachweislich an oder mit der Krankheit verstorben sind. Die anderen 33 Prozent lassen sich zum einen damit erklären, dass manche Infektionsfälle schlicht nicht registriert worden sind. Laut den Studienautoren haben aber auch diverse andere Krankheiten zur Übersterblichkeit beigetragen, z.B. Notfälle oder chronisch Kranke, die nicht rechtzeitig oder angemessen versorgt wurden.

Das legen auch Zahlen aus der frühen Phase der Pandemie nahe, wonach Besuche in Ambulanzen um mehr als 40 Prozent zurückgegangen waren. Tatsächlich lassen sich bei zwei Todesursachen im Frühjahr signifikante Anstiege feststellen, berichten nun Woolf und seine Kollegen: bei Herzkrankheiten und bei Demenz oder Alzheimer. Ob Personen in Not aus Angst keine Hilfe gesucht haben oder ob es auch an Versorgungsengpässen lag, lässt sich anhand der Daten nicht sagen.

Schwer getroffen

Dass die USA schwerer als die meisten Ländern von der Pandemie getroffen wurde und wird, bestätigt auch eine weitere ebenfalls in „JAMA“ erschienene Studie. Dafür wurden die Todesraten – also die Todesfälle pro Einwohner – in verschiedenen Ländern in verschiedenen Zeitabschnitten verglichen. Die Staaten wurden in drei Gruppen zusammengefasst: jene mit geringer Sterblichkeit (weniger als fünf Todesfälle pro 100.000 Einwohner), mit mittlerer Sterblichkeit (fünf bis 25 pro 100.000) – dazu zählt auch Österreich – und mit hoher Sterblichkeit (mehr als 25 Fälle pro 100.000).

Dabei zeigt sich eine interessante Entwicklung. Bis 9. September gab es in den USA knapp 199.000 dokumentierte Covid-19-Todesfälle, das sind mehr als 60 pro 100.000 Einwohner. Das sind etwas weniger als etwa in Spanien oder in Großbritannien und um einiges weniger als in Belgien (86 pro 100.000). Diese Zahlen verraten aber nicht, dass sich im Lauf der Monate einiges getan hat. Während nämlich besonders schwer betroffene Länder wie Italien ihre Todesrate mit einem Bündel an Maßnahmen drastisch drosseln konnten, ist sie in den USA relativ hoch geblieben. In Italien lag sie zwischen Mai und September nur mehr bei neun Todesfällen pro 100.000 Einwohner, in den USA waren es immer noch fast 37. Auch bei der allgemeinen Übersterblichkeitsrate liegt die USA in den letzten Monaten vor allen anderen zu Beginn schwer getroffenen Ländern, schreiben die Autoren.

Langfristige Folgen und Kosten

Auch innerhalb der USA ist die Pandemie aber durchaus unterschiedlich verlaufen – das zeigt ein weiteres Detailergebnis von Woolf und seinen Kolleginnen und Kollegen. Die am schlimmsten betroffenen Bundesstaaten wie New York, New Jersey und Massachusetts konnten die Todesrate binnen zehn Wochen deutlich reduzieren. Andere Bundesstaaten wie Texas und Florida hingegen waren zu Beginn fast verschont geblieben. Also lockerten sie ihre Maßnahmen. Der Anstieg kam dann im Sommer und hält bis heute an. „Wir können nicht beweisen, dass die frühen Lockerungen daran schuld sind, aber es scheint sehr wahrscheinlich“, so Woolf in einer Aussendung. Er spricht sich für eine bestimmteres Vorgehen zur Prävention aus, wie z.B. das verpflichtende Tragen von Masken.

Denn die Pandemie werde das Land noch länger beschäftigen. Manches werde erst in den nächsten Jahren erkennbar sein: Heute mangelhaft versorgte Kranke werden erst in zukünftigen Todesstatistiken auftauchen oder das Gesundheitssystem weiter fordern. Dazu kommen noch psychische Probleme. Dass diese in den USA ebenfalls zunehmen, zeigt eine andere aktuelle „JAMA“-Studie. Wie viel das alles das Land kosten wird, haben Forscher für eine weitere „JAMA“-Studie geschätzt: etwa 16 Billionen US-Dollar.