Zweiter Lockdown kann verhindert werden

Ein zweiter Lockdown kann verhindert werden, wenn die Bevölkerung Einschränkungen wie Hygiene und Abstandhalten mitträgt und auf bekannte Risikoaktivitäten wie private Feiern so weit wie möglich verzichtet, so ein österreichischer Komplexitätsforscher. Der Politik empfiehlt er Aufklärung statt Verboten.

In dem „Policy Brief“ hat Peter Klimek auf Basis der Modellierungen und statistischen Analysen des Complexity Science Hub Vienna (CSH) untersucht, wie kritisch die aktuelle Coronavirus-Lage in Österreich ist und welche Maßnahmen benötigt werden. Der Wissenschaftler betont, dass eine unkontrollierte Ausbreitung von Covid-19 nach wie vor zu einer Überlastung des Gesundheitssystems führen kann, speziell was die Intensivbettenkapazität betrifft. „Diesen Punkt würden wir bei etwa 4.700 bis 7.800 Neuinfektionen täglich erreichen“, so Klimek.

Davon sei man mit derzeit rund 900 Fällen pro Tag im 14-Tage-Schnitt noch weit entfernt. Dennoch sei ein derartiges Wachstum innerhalb weniger Wochen bis Monate nicht auszuschließen, betont Klimek unter Hinweis auf andere Länder bzw. Regionen wie Israel oder Madrid. Er verweist in diesem Zusammenhang auch auf zunehmende Aktivitäten in geschlossenen Räumen in den nächsten Monaten, mit der das Risiko für sprunghafte Zuwächse bei den Infektionen steige.

In die Analyse sind auch die Ergebnisse einer statistischen Untersuchung des CSH von 54.000 Corona-Maßnahmen eingeflossen, die in mehr als 200 Ländern im März und April getroffen wurden. Als wirksamste Maßnahmen wurde dabei das Verbieten aller Aktivitäten identifiziert, bei denen die Menschen in kleinen Gruppen länger miteinander nahen Kontakt haben, also die Schließung von Geschäften, Lokalen, Büros und Schulen (speziell von höheren Schulstufen).

„Pseudowissenschaftlicher Glaubenskampf“

Allerdings seien viel weniger einschneidende Maßnahmen fast genauso wirksam, so Klimek. Hochwirksam seien auch die Stärkung des Gesundheitssystems etwa durch die Trennung von Infekt- und Nicht-Infekt-Patienten sowie der Schutz von Spitälern und Pflegeheimen, die Absage von Großveranstaltungen, Reisebeschränkungen und die finanzielle Unterstützung vulnerabler Bevölkerungsgruppen, etwa damit sich prekär Beschäftigte bei Symptomen eine Selbstisolation erlauben und leisten können.

Es gebe aber „keine eierlegende Wollmilchsau“. Keine Maßnahme reiche alleine aus, um das Infektionsgeschehen zu bremsen, selbst den wirksamsten könne man nur eine Reduktion der Virusausbreitung von maximal rund 20 Prozent zuschreiben. „Angesichts solcher Ergebnisse ist es umso überraschender, dass eine Reduzierung der Infektionen um 20 Prozent durch das einfache Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes mancherorts als wenig wirksam erachtet wird“, erklärte Klimek, auch unter Hinweis auf den nicht nur in Österreich laufenden „pseudowissenschaftlichen Glaubenskampf“ über notwendige Maßnahmen.

Kein Konsens erwartbar

Der Wissenschaftler hält weiterhin einen regional zugeschnittenen Maßnahmenmix für nötig, um die Epidemie unter Kontrolle zu halten. Als Eckpfeiler einer solchen Mischung nennt er die grundlegenden Verhaltensregeln – Hygiene, Abstand, Maske an überfüllten geschlossenen Orten – sowie Testen, Tracing und Isolieren von Verdachtsfällen. Sobald man bei Letzterem überfordert sei, gehe ein besonderes Risiko von sogenannten Superspreading-Events aus, etwa bei Veranstaltungen mit vielen Leuten auf engem Raum. „Maßnahmen zur Einschränkung von privaten Feiern und ähnlichen Veranstaltungen sollten daher Priorität haben, bevor an flächendeckendere Ausgangssperren oder Schulschließungen gedacht wird“, so der Forscher.

Er erachtet zur erfolgreichen Bekämpfung der Epidemie „einen nationalen Schulterschluss“ für notwendig, „hier kann sich weder die Bevölkerung an der Politik noch die Politik an der Bevölkerung ‚abputzen‘“. Mit einem unumschränkten wissenschaftlichen Konsens über die Notwendigkeit von Coronavirus-Maßnahmen sei nicht zu rechnen, auch aufgrund von politischen Interessen, erklärte Klimek. Dennoch könne man der Wissenschaft insgesamt trauen. „Der bei weitem überwiegende Teil wissenschaftlicher Erkenntnisse sagt klar, dass weder Alarmismus bei marginal steigenden Fallzahlen angebracht noch an ein unkontrolliertes Laufenlassen der Epidemie zu denken ist.“