Ein Mann mit Handschuhen und Blumen bei einem Begräbnis
AFP/BALDESCA SAMPER
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Berechnung

So viele starben nicht an Covid-19

Die erste Coronavirus-Welle hat in 19 Staaten Europas sowie in Australien und Neuseeland zusätzliche 206.000 Menschenleben gefordert. 39.000 davon starben laut aktuellen Berechnungen nicht nachweislich am Coronavirus, sondern waren Opfer der Begleitumstände, in Österreich waren es 262 von 930 zusätzlichen Todesfällen. In manchen Ländern sank die Gesamtsterblichkeit hingegen sogar.

Die Forscher um Majid Ezzati vom Imperial College London (Großbritannien) berechneten mit 16 mathematischen Modellen, wie viele Menschen in diesen 21 Staaten (Österreich, Australien, Belgien, Bulgarien, Tschechien, Dänemark, England und Wales, Finnland, Frankreich, Ungarn, Italien, Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Polen, Portugal, Schottland, Slowakei, Spanien, Schweden und Schweiz) normalerweise gestorben wären, und zog diese Zahlen von den dokumentierten Todesfällen ab. Auf diese Art berechneten sie die Übersterblichkeit während der ersten Pandemiewelle.

Von Mitte Februar bis Ende Mai starben in diesen Ländern insgesamt 206.000 Menschen mehr, als ohne der Pandemie zu erwarten gewesen wäre, erklären die Forscher. Das entspricht in etwa der Zahl der Lungenkrebstoten in all jenen Ländern während eines ganzen Jahres. Von den Opfern waren 106.000 Männer und 100.000 Frauen. Das Verhältnis sei somit insgesamt recht ausgeglichen, während oftmals von viel mehr männlichen SARS-CoV-2 Toten berichtet wird.

Ursachen für indirekte Todesfälle wären zum Beispiel eine schlechtere medizinische Versorgung bei anderen Krankheiten und Unfällen, Verlust sozialer Netzwerke, von Jobs und Einkommen, Kriminalität wie häusliche Gewalt, Tabak-, Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie schlechtere Essgewohnheiten, so die Forscher.

Unentdeckte Infektionen und Engpässe

Nimmt man alle Länder zusammen, ist die Zahl der zusätzlichen Toten um 23 Prozent höher als die Zahl der Toten, die man dem Coronavirus zurechnet, schreiben sie. In Spanien (69 Prozent) und Italien (46 Prozent) waren die Unterschiede besonders frappant. Das mag teils an nicht erkannten SARS-CoV-2-Infektionen liegen sowie an höherer Sterblichkeit durch andere Krankheiten, weil die medizinische Versorgung nicht mehr so gut funktionierte.

In manchen Ländern wie Frankreich, Belgien und der Schweiz war die Übersterblichkeit vermutlich geringer als die Zahl der belegten Coronavirus-Opfer, obwohl es dort viele solche zu beklagen gab: In Frankreich wurden 28.771 Todesfälle Covid-19 zugerechnet, bei wahrscheinlich 23.700 Todesfällen mehr als ohne Pandemie. In Belgien gab es 9.487 Coronavirus-Tote bei 8.600 zusätzlichen Todesfällen und in der Schweiz 1.656 Coronavirus-Tote bei 1.400 zusätzlichen Todesfällen. Laut diesen Berechnungen sind weniger Menschen als sonst an anderen Ursachen gestorben. Das könnte laut den Forschern auch daran liegen, dass Menschen mit zahlreichen Vorerkrankungen als Coronavirus-Opfer gezählt werden, die ohnehin gestorben wären.

Weniger Tote

In Australien, Bulgarien, Tschechien, Ungarn, Neuseeland und der Slowakei gab es hingegen gar keine Übersterblichkeit oder sie betrug maximal fünf Prozent. In diesen Ländern starben im Untersuchungszeitraum trotz aller Coronavirus-Todesfälle wahrscheinlich sogar weniger Leute als ohne Pandemie. Mögliche Erklärungen dafür sind etwa eine geringere Zahl an Influenzaerkrankungen und anderer Atemwegskrankheiten durch die Coronavirus-Maßnahmen oder eine geringere Zahl der Verkehrs- und Freizeitunfälle sowie der Gewalttaten durch den Lockdown.

In Österreich gab es laut den Berechnungen der Forscher 930 zusätzliche Tote durch die Pandemie, zwei Drittel davon waren Frauen. 668 Sterbefälle während der ersten Covid-19 Welle wurden dem Coronavirus direkt zugerechnet.

Eklatante Unterschiede

Die Berechnungen sind freilich mit statistischen Unsicherheiten behaftet. Vor allem bei Ländern, die wie Österreich nicht so schlimm vom Virus heimgesucht wurden und wo die Zahlen der direkten und indirekten Pandemieopfer vergleichsweise niedrig sind, lassen die Schwankungsbreiten keine sicheren Schlüsse zu, ob es tatsächlich eine Übersterblichkeit gab und ob die Sterblichkeit durch die Pandemie signifikant gestiegen ist.

Warum es so eklatante Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern gibt, sei schwer zu sagen, erklären die Forscher. Wahrscheinlich würden hier viele verschiedene Dinge zusammenspielen, wie zum Beispiel der Gesundheitszustand der Bevölkerung, die sozialen Bedingungen, die Reaktionen der Entscheidungsträger und der Zustand des Gesundheitssystems.