Helmut Lethen in den 70er Jahren
Helmut Lethen / Deutsches Literaturarchiv Marbach
Helmut Lethen / Deutsches Literaturarchiv Marbach
Autobiografie

Helmut Lethen „schlau genug“

Helmut Lethen zählt zu den renommiertesten Germanisten und Kulturwissenschaftlern der Gegenwart. Soeben hat er eine Autobiografie veröffentlicht: „Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug“. Lethen erweist sich darin als ziemlich schlau – indem er die Leserinnen und Leser immer wieder über die Schultern seines Erinnerungsprozesses blicken lässt.

Der Buchtitel ist eine Zeile des „Lieds von der Unzulänglichkeit des menschlichen Strebens“ aus der „Dreigroschenoper“ Bertold Brechts. Diese Unzulänglichkeit ist den Erinnerungsspuren Lethens wie eine Art roter Faden eingewebt. Gleichgültig, was man im Leben anstrebt, zum Schluss kommt doch etwas anderes dabei heraus – diese List der Vernunft bedauert der Kulturwissenschaftler nicht nur nicht, sondern er geht ihr, soweit das eine Ich-Perspektive überhaupt zulässt, glaubwürdig nach.

K-Gruppen als Abkühlmittel der Gesellschaft

Bestes Beispiel dafür ist die eigene linksradikale Herkunft. Lethen war einer der studentischen Aktivisten, die den deutschen Germanistentag 1968 störten; er durfte, wie er selbstironisch beschreibt, bei einer der vielen Demonstrationen in Berlin einmal sogar ein paar Minuten lang die auffällige Lederjacke des SDS-Anführers Rudi Dutschke tragen, um die Polizei zu täuschen; Anfang der 70er Jahre war er Mitglied einer maoistisch-kommunistischen K-Gruppe. Als solches versuchte er mit seinen Genossen und Genossinnen, das Proletariat Berlins vom Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus zu überzeugen – mit bescheidenem Erfolg.

Was subjektiv damals ein potenziell heißes, revolutionäres Ansinnen war, wird in Lethens Rückblick zu einem Abkühlmittel der Gesellschaft. „Die marxistisch-leninistischen Parteien hätten von der List der Vernunft erfunden sein können, um einen Ordnungsfaktor in die chaotische Zeit zu bringen“, schreibt Lethen. Sie hätten die nach dem Zerfall der Studentenbewegung frei gewordenen destruktiven Kräfte gebunden, ihre objektive Funktion lasse sich erst im Rückblick erkennen. Lethens Beschäftigung mit den „Verhaltenslehren der Kälte“, einer Art Kältereaktion von Individuen in aufgeheizten Zeiten, hat hier ihre Wurzeln.

Cover des Buchs
Verlag Rowohlt
Helmut Lethen: Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug, Rowohlt Berlin, 384 Seiten, 24 Euro.

Bei seinem Rückblick lässt der Literaturwissenschaftler einen über die Schultern schauen. Er kramt nicht nur in Erinnerungen, sondern auch buchstäblich in alten Tagebüchern, Fotoalben, Taschenkalendern und Briefen. Das geht natürlich nicht ohne Eitelkeiten ab, und wie bei intellektuellen Autobiografen häufig begründet auch dieser seine Autorität mit ungezählten gelesenen Büchern von und Begegnungen mit anderen Geistesgrößen. Das stete Namedropping gipfelt auf Seite 312, wo Lethen sage und schreibe 33 Kollegen und Kolleginnen aufzählt, die sein „Herz höher schlagen ließen“ – geschenkt! Was Buch und Autor wirklich herausragen lässt, ist nicht das Zusammensetzen der Puzzlesteine eines bewegten Lebens, sondern der immer wieder eingestreute Versuch, auch genau darüber nachzudenken.

Magisches Denken verknüpft Erinnerungen

In Autobiografien stifte eine Art „magisches Denken Zusammenhänge“, schreibt Lethen. In der Erinnerung bringt es „Lektüreerfahrungen, Hörerlebnisse, Straßenbündnisse, Tanzformen und sexuelle Freiheiten“ zusammen, die per se nichts miteinander zu tun haben. Das magische Denken verknüpft „Constanze“, die bevorzugte Frauenzeitschrift von Lethens Mutter in der Nachkriegszeit, mit „Constanze“, einem viel später gelesenen Aphorismus von Adorno („Soll Liebe in der Gesellschaft eine bessere vorstellen, so vermag sie es nicht als friedliche Enklave, sondern nur im bewussten Widerstand", heißt es darin). Und es macht aus dem Massenauflauf rund um die Beatles im Juni 1963 in Amsterdam eine logische Etappe im Lebenslauf, Lethen ist bekennender „Twist and Shout“-Fan und zieht die Freiräume der Popmusik der Kulturkritik Adornos vor. Viele Jahre später adelt Diedrich Diederichsen den Versuch des angehenden Germanisten, in den Amsterdamer Grachten Teil einer Jugendkultur gewesen zu sein: „Popmusik stellt kleine Etappen des Aufbruchs dar, die nie über ihre langjährige Konsequenz Auskunft geben müssen.“

Lethen Anfang der 60er Jahre bei der Bundeswehr
Helmut Lethen / Deutsches Literaturarchiv Marbach
Lethen Anfang der 60er Jahre bei der Bundeswehr

Kein Adventkranz in Wien

Lethen hingegen gibt Auskunft über die langjährigen Konsequenzen seines Denkens. An vermutlich keinem anderen Ort kann er sie besser deklinieren als in Wien, wo in den vergangenen 20 Jahren so einiges zusammengekommen ist. Zum einen beruflich: Nachdem der Germanist wegen seiner politischen Überzeugungen an den Hochschulen Deutschlands lange verfemt war, 20 Jahre Professor in Utrecht war und erst Mitte der 90er Jahre einen Lehrstuhl in Rostock erhielt, kam er 2007 nach Wien – als Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK). „Widrigkeiten“ gab es dort anfangs, welche genau, verrät Lethen nicht, aber der Plan, sie zu bekämpfen, sei gut gewesen. Den „Deltaplan“ habe er aus seiner zweiten oder dritten Heimat, den Niederlanden, mitgenommen, dabei handelt es sich um ein kompliziertes Schleusensystem, das Sturmfluten bekämpft. Statt starrer Abwehrmauern setzt es auf bewegliche Sperren, die heranfließendes Wasser, „ins Land lassen, kanalisieren und zur Umkehr bringen“. Das klingt a) nach generell und b) besonders für Wien brauchbaren Diskursregeln, und mit ihnen gelang es auch fast, einen Adventkranz am IFK aufzuhängen.

Das war an einem Hort der Dekonstruktion sozialer Gepflogenheiten dann doch zu viel, als laizistischer Kompromiss wurde ein Topf mit einer Amaryllis im Empfangsraum aufgestellt, heißt es aus dem IFK. Erfolgreicher war Lethen aber bei dem Versuch, die Kulturwissenschaften mit Begriffen zu konfrontieren, die sie üblicherweise nur unter Anführungszeichen setzen. Namentlich: „Wirklichkeit“, „Natur“ und „Evidenz“. Unter den vielen poststrukturell geprägten Kollegen und Kolleginnen löste das natürlich den „Alles ist konstruiert“-Reflex aus, mit Symposien und Forschungsschwerpunkten wie die „Kulturen der Evidenz“ sorgte der „fremde Vogel“ der Kulturwissenschaften aber zumindest für einen gepflegten Austausch.

Helmut Lethen in den 70er Jahren
Helmut Lethen / Deutsches Literaturarchiv Marbach
Helmut Lethen in den 70er Jahren

„Ehedrama“ begann mit einem Buch

Dass Privates und Politisches zusammenhängen, ist nicht nur eine Binsenweisheit der 68er Generation, sondern könnte auch der inoffizielle Titel Lethens Wiener Jahre sein. Das „Ehedrama Caroline Sommerfeld und Helmuth Lethen“ hat vor einigen Jahren nicht nur die deutschsprachigen Feuilletons elektrisiert, die beiden schafften es sogar in die „New York Times“. Über dieses Drama gibt der Germanist ziemlich schonungslos Auskunft, es hat vielleicht mit einem Buch begonnen, vielleicht auch mit Küchengesprächen in der Waldorfschule der Kinder. Die Buchversion: Während Lethen Jean Raspails „Das Heerlager der Heiligen“, eine literarische Vorwegnahme des „Flüchtlingssommers 2015“, als „abgründiges Bild einer wiederkehrenden Kolonialschuld Frankreichs“ liest, überzeugt der Roman Gattin Sommerfeld von der rechtsradikalen Idee eines „Großen Austauschs“. Innerhalb kurzer Zeit wendet sie sich den Identitären zu und wird zu deren Vorzeigephilosophin.

Die privat-politischen Diskussionen im Haus Sommerfeld-Lethen hat die nun nicht mehr ganz so Neurechte bereits in zahlreichen Blogbeiträgen und in Büchern beschrieben. Der Altlinke erinnert sich nun aus seiner Sicht, noch immer ziemlich fassungslos. Kurz zusammengefasst: Die Hauptthese der neuen alten Rechten, „die Deutschen“ seien nach dem Zweiten Weltkrieg von den angelsächsischen Siegermächten zu einer „Schuldkultur“ gebrainwashed worden, die letztlich zur Aufnahme der Flüchtlinge 2015 geführt habe, sei Mumpitz.

Lethen selbst habe erst 1957 als Gymnasiast durch den Film „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais vom Ausmaß der Schrecken des Holocaust erfahren. Zu diesem Zeitpunkt deckten sich die Funktionärseliten Deutschlands in einer nur wenig gestörten Kontinuität zwischen Drittem Reich und Bundesrepublik noch gegenseitig. Das Aufarbeiten des Zivilisationsbruchs im Nationalsozialismus wurde nicht von fremden Mächten oktroyiert, wie das die Neurechten gerne fantasieren, sondern war zentrales Selbstverständnis Lethens 68er.

Rütteln am Selbstverständnis

Um an diesem Selbstverständnis zu rütteln, braucht es, so erzählen es die Erinnerungen, keine alt-neurechte Identitätspolitik, die wieder vom „deutschen Volk“ schwadroniert und sich trotz fehlender Empirie auf die schützenswerten Ursprünge desselben beruft, das macht schon der Autor selbst, und das adelt die Biografie. Lethen etwa erschrickt, als er 30 Jahre nach dem Verfassen eines Artikels über Walter Benjamin draufkommt, dass ihn ausgerechnet Carl Schmitt, der „Kronjurist des Dritten Reichs“, sehr positiv kommentiert hat. Die Sprache der linksradikalen Studentenkreise erweist sich im Rückblick als erstaunlich anschlussfähig an die wilhelminischen Väter und die Vertreter der konservativen Revolution. Auch dass Lethen von seinen Idolen Benjamin, Adorno und Horkheimer nie „ein einziges Wort zum Schutz der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik gehört hatte“, fällt nun auf. Und auch den Vergleich von Hitlerjugend und studentischem Treiben in den 60er Jahren stellt er zumindest in den Raum.

Lethen ist mittlerweile 81 Jahre alt, sein letzter Doktorand forschte zu Fahnenflucht in Computerkriegsspielen. Die akademische Welt und die restliche haben sich weitergedreht, das magische Denken der Autobiografie bleibt bestehen. Zum Schluss erinnert Lethen an den Schrecken, den die Luftschutzalarmsirenen in der Kindheit ausgelöst haben – und befindet sich in einem Strandbad an der Wiener Alten Donau, wo Sirenen lange den Badeschluss verkündeten.