Vor allem jüngere Menschen sitzen in Trauben auf einer Wiese
APA/AFP/TT News Agency/Henrik MONTGOMERY
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Coronavirus

Forscher warnen vor „Herdenimmunität“

Die Coronavirus-Zahlen steigen in vielen Ländern Europas, entsprechend werden die Gegenmaßnahmen verschärft. Manche Mediziner meinen nun, man solle stattdessen auf ein langsames Erreichen von „Herdenimmunität“ setzen – prominente Forscher und Forscherinnen warnen nun in einer Petition eindringlich vor dieser Idee.

Die Sterblichkeitsrate von SARS-CoV-2 sei um ein Vielfaches höher als bei der Grippe, Infektionen können auch bei jüngeren und bisher gesunden Menschen zu dauerhafter Krankheit führen, es sei unklar, wie lange die Immunität nach einer Infektion andauert, außerdem mehren sich die Hinweise, dass Menschen mehrfach infiziert werden können: All das spreche gegen den Versuch, auf eine „Herdenimmunität“ in der Bevölkerung zu setzen.

John Snow Memorandum

80 Medizinerinnen und Mediziner haben diese und andere Argumente nun im John Snow Memorandum festgehalten und fordern zur Unterstützung per Unterschrift auf. John Snow ist nicht mit der gleichnamigen Figur aus der TV-Serie „Game of Thrones“ zu verwechseln, dabei handelt es sich um einen britischen Arzt aus dem 19. Jahrhundert, der als Mitbegründer der modernen Epidemiologie und Pionier der Choleraforschung gilt. Unter den Erstunterzeichnern befindet sich auch Florian Krammer, österreichischer Virologe von der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York.

Lockdowns hätten zu Beginn der Pandemie dazu geführt, die Verbreitung des Virus einzudämmen, Todesfälle zu verringern und Zeit zu „kaufen“ für sinnvolle Maßnahmen danach, schreiben die Autorinnen und Autoren. Diese Zeit wurde aber vielfach nicht genutzt, und nun würden neue Einschränkungen auf Demoralisierung und schwindendes Vertrauen treffen.

Die „zweite Welle“ hätte das Interesse an einer Strategie der „Herdenimmunität“ wieder geweckt. Ihr zufolge soll sich das Virus unter jungen und anderen Menschen mit geringem Risiko ausbreiten, während die ältere und gefährdete Bevölkerung besonders geschützt werden soll. Befürworter dieser Strategie, etwa von der Great Barrington Declaration, erwarten sich, dass große Teile der Bevölkerung nach einiger Zeit eine Immunität entwickeln, die letztlich auch die Hochrisikogruppen beschützen würde. „Das ist ein gefährlicher Trugschluss, der nicht durch wissenschaftliche Evidenz unterstützt wird“, heißt es im John Snow Memorandum nun in deutlichen Worten.

Würde zu wiederkehrenden Epidemien führen

Die unkontrollierte Ausbreitung des Virus bei jüngeren Menschen würde zu mehr Krankheits- und Todesfällen in der gesamten Bevölkerung führen. Neben dem menschlichen Leid würde das die gesamte Erwerbsbevölkerung betreffen und die Akutversorgung in den Krankenhäusern gefährden. Bisher sei es nicht klar, wie lange eine Immunität erhalten bleibt; wenn sie abnimmt, würde das die Älteren auf unbestimmte Zeit in Gefahr bringen.

Eine solche Strategie würde die Covid-19-Pandemie nicht beenden, sondern zu periodisch wiederkehrenden Epidemien führen – so wie das bei zahlreichen Infektionskrankheiten der Fall war, bevor Schutzimpfungen erfunden wurden. Dazu würde sie alle, die im Gesundheitsbereich arbeiten, „inakzeptabel“ belasten – viele von ihnen seien bereits an Covid-19 gestorben oder würden unter Traumata leiden. Auch die Langzeitfolgen der Krankheit seien noch unklar.

„Besonderer Schutz“ der Alten höchst unethisch

Das vielleicht wichtigste Argument der 80 Forscher und Forscherinnen: Wie sollen die betagten Menschen und andere Risikogruppen besser geschützt werden als bisher? „Die verlängerte Isolation von großen Teilen der Bevölkerung ist praktisch unmöglich und in höchstem Maß unethisch.“ Ein derartiger Versuch würde sozioökonomische Ungleichheiten und strukturelle Diskriminierungen weiter verschärfen, schreiben die Forscherinnen und Forscher. Natürlich sei der Schutz der Hochrisikogruppen essenziell, er müsse aber von einem vielfältigen Ansatz auf Ebene der Gesamtbevölkerung begleitet werden.

Dazu zählen sie wirksame Maßnahmen, um die Ausbreitung des Virus zu verringern und zu kontrollieren, zugleich sollten finanzielle und soziale Programme den bereits entstandenen Ungleichheiten begegnen. Kurzfristige Einschränkungen werden vermutlich weiter nötig sein, um zukünftige Lockdowns zu verhindern, schreiben die Forscherinnen und Forscher. Ziel müsse es sein, die Infektionszahlen auf niedrigem Niveau zu stabilisieren, um lokale Ausbrüche schnell lokalisieren und mit Tests, Nachverfolgung und Quarantäne bekämpfen zu können – damit könnte so etwas wie eine Normalität erreicht und komplette Lockdowns vermieden werden. Das sei nicht zuletzt wichtig, um die Wirtschaft zu schützen.

Vorbilder seien Länder wie Japan, Neuseeland und Vietnam: Sie hätten gezeigt, wie das Virus mit „robusten Maßnahmen“ kontrolliert und zu einer Fast-Normalität zurückgekehrt werden kann. Bis wirkungsvolle Impfstoffe zur Verfügung stehen, sei die Kontrolle der Virusverbreitung in der Gesamtbevölkerung das beste Mittel – und das einzige, das sich auf Evidenz berufen könne.