Pasterze im August 2020
APA/EXPA/ JOHANN GRODER
APA/EXPA/ JOHANN GRODER
Gletschertagebuch

Gemischte Bilanz für Österreichs Gletscher

Während manche österreichischen Gletscher wieder mit extremen Verlusten zu kämpfen hatten, kamen andere heuer glimpflich durch den Sommer: Andrea Fischer und Hans Wiesenegger ziehen in ihrem Gletschertagebuch eine gemischte Bilanz.

Porträtfotos von Andrea Fischer und Hans Wiesenegger
Fischer/Wiesenegger

Über Autorin und Autor

Andrea Fischer vom Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Hans Wiesenegger, Leiter des Hydrographischen Dienstes (HD) des Landes Salzburg.

Der Start in den Sommer 2020 gestaltete sich für die österreichischen Gletscher recht unterschiedlich. Insbesondere in den Hohen Tauern trugen die Herbstschneefälle 2019 zu einer schützenden Winterschneeschicht bei, unter der sich das Eis vor der Sonne verstecken konnte. Im Unterschied zu den Vorjahren, in denen die Schmelze während des Sommers kaum unterbrochen wurde, sorgten im Sommer 2020 einige Schneefallereignisse zu regionalen Verschnaufpausen.

Besonders im Westen und im Norden Österreichs fielen die genannten Niederschlagsereignisse nicht so kräftig aus, und die dortigen Gletscher verzeichneten wieder extreme Verluste. Dabei gehen mittlerweile schon einzelne extreme Jahre den Gletschern deutlich an die Substanz. Die Schmelze in allen Höhenlagen führt vermehrt zur Abtrennung ganzer Gletscherteile, wodurch sich der Flächenverlust nochmals beschleunigt.

Gletscherzunge des Jamtalferners
Andrea Fischer
Die noch existierende Gletscherzunge des Jamtalferners wird durch Felsinseln von höherliegenden Bereichen schon fast abgeschnitten (20.08.2020)

Verlust am Stubacher Sonnblickkees

Geringer Neuschneezuwachs im Hochwinter 2020 und ab Anfang April einsetzende Schmelzprozesse resultierten in vergleichsweise unterdurchschnittlichen Werten am Ende der Akkumulationsperiode, im Mittel lagen nur mehr rund 3,5 Meter Schnee am Stubacher Sonnblickkees. An der automatischen Messstation Weißsee (2.261 Meter Seehöhe) der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) wurden Anfang Juni 2020 nur mehr 110 Zentimeter Schneehöhe und damit fast 2,5 Meter weniger als im Juni 2019 registriert.

Ab Anfang Juli war am Stubacher Sonnblickkees und auch in vielen anderen Hochgebirgsregionen ein durch Schneealgen hervorgerufenes und als „Blutschnee“ beschriebenes Phänomen zu beobachten.

Stubacher Sonnblickkees mit beginnender Ausaperung und „Blutschnee“ am linken Bildrand
Hans Wiesenegger
Stubacher Sonnblickkees mit beginnender Ausaperung und „Blutschnee“ am linken Bildrand (8.7.2020)

Die Sommermonate Juli und August waren durch ständig abwechselnde Schön- und Schlechtwetterperioden gekennzeichnet und bescherten dem Stubacher Sonnblickkess immer wieder eine schützende Neuschneedecke. Dieser Umstand lies bis Anfang September eine nahezu ausgeglichene Bilanz erwarten. Es folgte jedoch einer der 25 wärmsten September-Monate der Messgeschichte, die relativ lange anhaltende und in der Höhe auch warme Schönwetterlage führte schließlich doch noch zu einer deutlich negativen Massenbilanz des Gletschers.

Die maximale Ausaperung wurde im Zeitraum 15. bis 24.09.2020 erreicht, der Schneefall am 25.09.2020 beendete endgültig die Abschmelzvorgänge für diese Saison. Die auf Basis der Drohnen-Befliegung (15. September) vorläufig ermittelte Ausaperung des Stubacher Sonnblickkees ergibt eine negative Bilanz von rund 0,65 Millionen Kubikmetern bzw. über die gesamte Gletscherfläche gemittelt eine Abschmelzung von ca. 0,8 Meter.

Rudolfshütte mit Blick auf eingeschneites Stubacher Sonnblickkees
Foto-webcam.eu am 27.9.2020
Rudolfshütte mit Blick auf eingeschneites Stubacher Sonnblickkees (27.9.2020)

Dachstein: Weiterhin große Verluste

Der Hallstätter Gletscher unterhalb des Hohen Dachstein veränderte sich in seiner 14 Jahre andauernden Massenbilanzreihe am stärksten, wie Klaus Reingruber (Bluesky) und Kay Helfricht vom (IGF/ÖAW) berichten (Ergebnisse der Massenbilanzmessung): Die charakteristische mittlere Zunge ist nur mehr ein Fragment. Die Schneedecke hielt sich zwar lang, der August brachte aber noch einen deutlichen Umschwung.

Hohe Tauern: Mehr Schnee, weniger Schmelze

Wie Anton Neureiter von der ZAMG berichtet, hat der Winterschnee vor allem auf der Alpensüdseite den Sommer überdauert. So haben sich am Kleinfleißkees wieder Schneereserven gebildet. Eine erste Abschätzung lässt auf das Abschmelzen einer Wassersäule von ca. 0,7 Metern Höhe über den Gletscher gemittelt für das Kleinfleißkees schließen. Das Goldbergkees verlor etwa einen Meter Wassersäule. Dieser Massenverlust entspricht dem langjährigen Durchschnitt für das Kleinfleißkees, für das Goldbergkees liegt er leicht über dem Durchschnitt.

Am Venedigerkees im Nationalpark Hohe Tauern liegt so viel Schnee aus dem letzten Winter wie noch nie seit dem Messstart im Jahre 2012. Bernd Seiser vom (IGF/ÖAW) führt dies auf die hohen Schneemengen des Oktober 2019, sowie einige Schneefälle im Sommer 2020 zurück . Besonders im Juli und im August stoppten der Neuschnee die Schmelze immer wieder. Die maximale Ausaperung wurde am 24.09.2020 erreicht und endete mit Schneefall am 25.09.2020. Am 27.09. wurde das Venedigerkees für dieses hydrologische Jahr endgültig eingeschneit.

Blick vom Großvenediger Richtung Osten mit Kleinvenediger (links), Schwarze Wand, Hoher Zaun und Rainerhorn (Bildmitte), Hohes Aderl (rechts) und Großglockner im Hintergrund am 22.09.2020
M. Stocker-Waldhuber
Blick vom Großvenediger Richtung Osten mit Kleinvenediger (links), Schwarze Wand, Hoher Zaun und Rainerhorn (Bildmitte), Hohes Aderl (rechts) und Großglockner im Hintergrund am 22.09.2020

Auch am Mullwitzkees machten sich hohe Winterschneemengen und häufige Sommerschneefälle positiv bemerkbar. Der von Martin Stocker-Waldhuber ermittelte Massenverlust liegt deutlich unter dem Durchschnitt der bisher 14-jährigen Messreihe. Größere Schneerücklagen konnten sich bis zum Ende des Sommers aufgrund der ergiebigen frühen (November 2019) und somit gut gesetzten Winterschneedecke halten.

Ötztaler Alpen: Mehr Schnee als im Vorjahr

Das Team der Bayerischen Akademie der Wissenschaften um Christoph Mayr hat die Herbstbegehung am Vernagtferner am 15.09.2020 durchgeführt. Die Schmelze war vergleichbar mit 2018/19, die Schneerücklage etwas höher als im Vorjahr.

Die Winterbilanz am Hintereisferner fiel überdurchschnittlich aus, wie Rainer Prinz und Lindsey Nicholson von der Universität Innsbruck berichten. Ungewöhnlich war eine völlige Durchfeuchtung der Schneedecke bis hinauf in den höchsten Lagen bereits Anfang Mai. Der warme September sorgte dafür, dass Schneerücklagen nur in den obersten Gletscherbecken erhalten blieben. Die Jahresbilanzen am Hintereis- und Kesselwandferner sind heuer negativer als 2019 und ähnlich dem Mittelwert der letzten 20 Jahre – das heißt, gemittelt über ihre Fläche haben die beiden Gletscher etwa einen Meter an Mächtigkeit bzw. zusammen mehr als zehn Millionen Kubikmeter Wasser verloren.

Mit dem Starkniederschlagsereignis Ende August ging eine Mure auf den untersten Bereich der Zunge des Hintereisferners ab. Der Gletscher verlor dadurch etwa ein Prozent seiner Fläche unter den Schuttablagerungen. Das Volumen der Ablagerungen beträgt mehr als 200.000 Kubikmeter. Die Rofen- und Venterache waren über Tage hinweg durch die hohe Sedimentfracht braun verfärbt.

Die Pandemie brachte nur für die Messung der Winterbilanz gravierende Einschnitte. Statt die Winterbilanz wie üblich in zwei bis drei Tagen zu messen, musste heuer ein Tag dafür ausreichen. Die Einschränkungen während des Sommers waren marginal.

Österreichische Silvretta: Extreme Verluste

Am Jamtalferner im österreichischen Teil der Silvretta schmolz auch heuer wieder der Schnee aus dem Winter vollkommen ab. Nach den Jahren 2015, 2017 und 2018 gab es somit das vierte Mal in der über 30-jährigen Messreihe keine Rücklagen, in nur vier Jahren war der Verlust größer als heuer. Auch in den Gipfelbereichen ging etwa ein Meter Eis verloren. Durch weiter ausapernde Felsinseln steht der Zerfall des Gletschers in mehrere hochgelegene Einzelgletscher unmittelbar bevor.

Benachbartes Ausland

Auch in der Schweiz war 2019/2020 für die Gletscher ein weiteres schlechtes Jahr, wie Andreas Bauder von der ETH Zürich berichtet. Dabei dürfte im Vergleich zu den beiden Vorjahren die knapp durchschnittliche Winterakkumulation und die sehr extreme Sommerschmelze zur schlechten Jahresbilanz beigetragen haben (Bericht der Expertenkommission für Kryosphärenmessnetze der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz ist hier abrufbar).

In Südtirol sind laut Roberto Dinale vom Amt für Hydrologie und Stauanlagen der Provinz Bozen, die Massenbilanzen 2019/20 nicht ganz so negativ ausgefallen wie in den Vorjahren. Vor allem profitierten die größeren Gletscher mit signifikanten Flächen über 3.000 Meter von den ergiebigen Schneemengen, die im Herbst 2019 auf den Gletschern gefallen waren und in höheren Lagen den Sommer überdauert haben. Es sind somit zwar überall Massenverluste zu verzeichnen (zwischen -0,4 und -0,8 Meter), diese sind aber deutlich kleiner als im langjährigen Mittel (-0,8 bis -1,0 Meter). Zu diesem Ergebnis haben auch der feuchte und zu kalte Juni und das Ausbleiben von Hitzeperioden im Hochsommer beigetragen.

Seit Anfang September sind in Südtirol fünf Foto-Webcams auf die Gletscher gerichtet. Die Kameras wurden im Zuge des Interreg Projektes „ID ITAT2025 -GLISTT“ „Ein Gletschermonitoringkonzept für die Region Südtirol-Tirol“ errichtet und dienen der Beobachtung von vergletscherten Einzugsgebieten in Südtirol.