Vater spricht mit seinem Sohn
Stock Rocket – stock.adobe.com
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Psychologie

Wie man Terrortraumata verarbeitet

Schon die Coronavirus-Krise hat viele Menschen verunsichert, nun, zu Beginn des zweiten Lockdowns, auch noch der Terroranschlag in Wien: eine „extrem ungute Kombination“, wie es die Traumaexpertin Brigitte Lueger-Schuster nennt. Gemeinsam mit Kollegen gibt sie Tipps, wie man die Situation am besten bewältigt – und speziell Kinder dabei unterstützt.

Der Montagabend war der letzte Abend vor einer coronavirusbedingt „hochnotwendigen Isolierungsphase, die alle schon stresst und nervt“, so Brigitte Lueger-Schuster von der Arbeitsgruppe Psychotraumatologie an der Universität Wien. Insgesamt bedeute die Coronavirus-Krise für viele Menschen bereits eine „massive Belastung“, wie es die Psychologin im Ö1-Mittagsjournal ausdrückte, vielfach auch mit finanziellen Problemen: „Wir wissen aus Studien, dass viele Menschen trauriger waren als zuvor.“

Akute traumatische Belastung

Und nun auch noch der Terroranschlag in Wien: Derartige Erlebnisse können unterschiedliche emotionale Reaktionen auslösen wie Wut, Ärger, Unverständnis oder Entsetzen. „Für Menschen, die direkt anwesend waren, ist das natürlich eine ganz massive, akute, durchaus traumatische Belastung. Alleine die Vorstellung, dass man plötzlich in einer Stadt lebt, wo Menschen wild schießend mit terroristischem Hintergrund durch die Stadt laufen und man sich dort nicht sicher fühlen kann, verunsichert ganz massiv“, so Lueger-Schuster.

Hilfe via Telefon

  • Psychiatrische Soforthilfe für Wien, 24-Stunden-Hotline: +43 1 31330
  • Notfallpsychologischer Dienst Österreich, 24-Stunden-Hotline: +43 699 188 554 00
  • Opfernotruf, 24-Stunden-Hotline: +43 800 112 112
  • Kriseninterventionszentrum: +43 1 4069595

Auch die großangelegte Polizeiaktion könne ein Stück weit angstauslösend wirken. Betroffene „werden das wahrscheinlich jetzt langsam verarbeiten und vielleicht eine Zeit lang Nachbilder haben und sich verunsichert fühlen“. Das sei angesichts so einer außerordentlichen Situation und der Schock-, Stress- und Schreckreaktion jedenfalls normal.

Sich selbst Ruhe gönnen, miteinander sprechen

Lueger-Schuster: „Das muss erst mal ein Stück weit verarbeitet und verstanden werden. Problematisch wird es, wenn das länger als einige Wochen andauert. Wenn man sich nicht aus dem Ereignis lösen kann, wenn immer wieder Bilder auftauchen oder man möglicherweise immer wieder einen Alptraum hat.“ Erkennt man bei sich Tendenzen, potenziell ähnliche Situationen auch längerfristig zu vermeiden bzw. zuckt man auch nach längerer Zeit noch bei jedem Folgetonhorn „extrem zusammen“ und wähnt sich „wieder genau in der Situation in jener Nacht“, sollte man aufmerksam werden und professionelle Hilfe in Betracht ziehen.

Beim Umgang mit Schockreaktionen helfe es, „wenn man sich Ruhe gönnt und nicht nur ständig in den Medien ist und sich das wieder und wieder anschaut“, rät die Psychologin. Man sollte sich dosiert Informationen holen – und zwar in seriösen Medien und „nicht in den Parallelwelten der Sozialen Medien mit ihren Gewaltvideos“ – und über das Erlebte sprechen. „Ganz schlecht ist, wenn man versucht, das Ganze zu verdrängen. Das wirkt wie ein Bumerang. Je mehr man das von sich wegzuschieben versucht, desto schneller und intensiver kommt es immer wieder zurück. Das hält dann an“, sagte Lueger-Schuster. Auch „Selbstmedikation“, etwa mit Alkohol, könne die Problematik verstärken.

Fünf Elemente für positive Wirkung

Wichtig sei, sich nun in den Wohnungen in Sicherheit zu fühlen, soziale Bezüge zu leben, soziale Ressourcen zu nutzen, Ruhe zu erleben und „Dinge tun, die einem guttun“, so die Wissenschaftlerin. „Wir wissen auch, dass seitens der Sicherheitsorgane alles getan wird, um diese Situation aufzuklären.“

Die psychologische Forschung wisse von fünf Elementen, die in solch einer Situation positive Wirkung zeitigen: Dazu zählt das Gefühl der Sicherheit, das Gefühl der Verbundenheit, das Gefühl von Ruhe und Hoffnung und ein Gefühl dafür, dass man sich selbst schützen kann, und sich als effektiv im Umgang mit sich selbst zu erleben. Dazu komme, dass es in Wien ein sehr gutes psychosoziales Auffangnetz gebe, wie Lueger-Schuster betonte: „Die Akutbetreuung der Stadt Wien ist schon an der Versorgung der betroffenen Menschen dran. Wir haben eine gute Versorgung, die es zu nützen gilt.“

Kinder nicht unreflektiert informieren

Die aktuelle Situation ist natürlich auch für Kinder nur schwer zu verdauen, für ihre Eltern ist der Umgang mit der Situation eine Herausforderung. „Bezugspersonen liefern Emotionen mit“, sagte Traumapsychologe Cornel Binder-Krieglstein. „Eltern müssen nicht in jeder Situation souverän sein“, betonte gleichzeitig Soziologin Ulrike Zartler von der Uni Wien. Sie sollten nicht tun, als wären sie nicht emotional betroffen.

Binder-Krieglstein rät, die Information über die schrecklichen Nachrichten nicht völlig ungefiltert weiterzugeben, die Botschaft selbst einmal „emotional vorzuverdauen“. Die Wortwahl, die Stimmlage und der Affekt – ob etwas ruhig und langsam weitergegeben wird -, sind bei der Erklärung für die Kinder ausschlaggebend. Mit einer „konsistenten, nachhaltigen, gleichbleibenden, lösungsorientierten und ich-syntonen Form“ muss das Geschehene übermittelt werden, um es authentisch zu machen.

TV- und Radiohinweis

ORF2, ORF1 und ORF III sowie die ORF-Radios berichten umfassend über den Anschlag in Wien – mehr dazu in tv.ORF.at.

Zunächst muss die Gemütsbewegung der Eltern eingeordnet werden: Was bedeutet das für jemand Einzelnen? Dann sollten sich Mutter und Vater überlegen, was das für die Familie bedeutet: Gibt es ein Gefährdungspotenzial und wie handelt man? Danach sollte alles dem Kind altersgerecht übermittelt werden. „Einem Zweijährigen werde ich die Situation anders erklären als einem Zwölfjährigen“, sagte Binder Krieglstein.

Kinder vertrauen ihren primären Bezugspersonen – egal ob beim Coronavirus, bei Terror oder bei Liebeskummer. Und sie haben das Recht auf authentische Antworten ihrer Fragen. „Hilflos ausgeliefert sein und kopflos Herumrennen“ bringe nichts.

Altersgemäß sprechen, Sicherheit geben

Man dürfe nicht unterschätzen, dass die Kinder aufgrund der ständigen Unsicherheit während der Coronavirus-Pandemie schon vor dem Anschlag in einer Ausnahmesituation waren, betonte die Soziologin Ulrike Zartler. Die Eltern seien ebenfalls „schon am Anschlag“, so die Soziologin, die seit März die Auswirkungen der Pandemie auf Familien beforscht. Dass nun zusätzlich noch dieses bedrohliche Ereignis auftrete, könne für Kinder durchaus traumatisierend sein. „Das ist nicht zu unterschätzen.“

Das Phänomen der Terroranschläge sei zwar nicht neu. „Aber es erzeugt eine massive Verunsicherung, dass so etwas auch bei uns möglich ist“, so Zartler. Vor allem für Kinder in Wien sei der Anschlag an Orten, die sie selbst kennen und an denen sie schon waren, „auch ein Anschlag auf die eigene persönliche Integrität“.

Auch für Zartler ist das Wichtigste, dass Eltern mit ihren Kindern die Situation ausführlich altersgemäß besprechen und ihnen Stabilität geben, indem sie ihnen versichern, dass sie in Sicherheit sind und die Polizei sich darum kümmert, die Situation zu klären. Fantasien der Kinder, etwa von Angreifern vor der Haustüre, müsse man früh besprechen. „Sonst können Ängste und Alpträume entstehen.“