Behandlungsraum einer Intensivstation mit Monitoren und ärztlichem Personal
Vadim – stock.adobe.com
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Das Worst-Case-Szenario der Intensivmedizin

Die Infektionszahlen schnellen in ganz Europa nach oben: Der Intensivmediziner Klaus Markstaller erklärt, warum es zu dieser für manche überraschenden Entwicklung kam – und was bei einer Überlastung der Krankenhäuser passieren könnte.

science.ORF.at: Herr Markstaller, wie ist die Situation an Österreichs Krankenhäusern?

Klaus Markstaller: Die Situation ist zunehmend angespannt, weil wir aufgrund der rapiden Zunahme der Infektionszahlen – mit einem entsprechenden Zeitverzug – auch eine rapide Zunahme bei den Hospitalisierungen und bei den intensivpflichtigen Patienten sehen. Die Zahlen sind ja weitgehend bekannt, in Österreich gibt es derzeit ca. 300 intensivpflichtige Patienten und Patientinnen, die an Covid-19 erkrankt sind, in Wien sind es etwa 100. Intensivbetten gibt es in Österreich insgesamt 2.000. Jetzt muss man wissen: Intensivbetten sind prinzipiell zu 85 bis 90 Prozent ausgelastet. Das ist bewusst so gewollt, da dies die teuerste Ressource im Krankenhaus ist. Und vor der Pandemie gab es auch keinen Grund, eine höhere Vorhaltekapazität zu haben. Das wäre auch unökonomisch gewesen.

intensivmediziner Klaus Markstaller
APA/GEORG HOCHMUTH

Zur Person:

Klaus Markstaller leitet die Universitätsklinik für Anästhesie, Allgemeine Intensivmedizin und Schmerztherapie des AKH Wien.

Theoretisch hätte man die Kapazitäten im letzten halben Jahr aufstocken können. Als Gegenargument wird immer wieder ins Treffen geführt: Bei einer unkontrollierten Entwicklung wären auch diese zusätzlichen Ressourcen schnell erschöpft.

Markstaller: Praktisch ist ohnehin die personelle Besetzung der limitierende Faktor. Um eine gute Intensivtherapie durchführen zu können, brauchen sie spezialisiertes Pflegepersonal und ärztliche Expertise. Und dieser Expertise liegen jahrelange Ausbildungen zugrunde – die kann man nicht in Monaten verdoppeln.

Was passiert, wenn die Kapazitätsgrenzen erreicht sind?

Markstaller: Man spricht ja immer vom „Zusammenbruch“ der Intensivmedizin oder des Gesundheitswesens. Es ist nicht so, dass bis zu einer gewissen Aufnahmezahl alles perfekt ist und plötzlich funktioniert gar nichts mehr. Das ist vielmehr ein schleichender Prozess, bei dem die medizinische Qualität schrittweise zurückgeschraubt werden muss. Momentan haben wir kein Ressourcenproblem, jeder Patient, jede Patientin bekommt medizinisch gesehen die optimale Versorgung. „Optimal“ heißt nicht nur alle technischen Möglichkeiten, sondern auch: eine auf die Patienten zugeschnittene Behandlung.

Wenn etwa ein junger Mensch auf unsere Station kommt, der versterben könnte, aber ansonsten eine hervorragende Prognose hat, dann wollen wir natürlich alle zur Verfügung stehenden Ressourcen einsetzen. Sind aber zum Beispiel keine Herz-Lungen-Maschinen mehr verfügbar, muss man sich überlegen: Wem werden wir diese Methode nicht mehr anbieten können? Und das könnte täglich passieren, unabhängig davon, ob es sich um Covid-19-Erkrankungen handelt oder nicht.

Auf welches Versorgungsniveau würde die Intensivmedizin zurückfallen? Könnte man das mit der Situation in wenig wohlhabenden Ländern vergleichen?

Markstaller: Spitzenmedizin gibt es fast in jedem Land, auch in Entwicklungsländern. Ich weiß zum Beispiel recht gut über das Gesundheitssystem in Peru Bescheid. Dort gibt es Krankenhäuser, die dem AKH um nichts nachstehen. Der Unterscheid ist nur: Diese Versorgung steht bloß für fünf Prozent der Bevölkerung zur Verfügung. Das ist der Punkt, den ich vorhin gemeint habe: Wenn hierzulande jemand einen Unfall hat, dann fragt keiner, wer das ist. Das ist im Grunde eine luxuriöse Situation, alle bekommen die beste medizinische Versorgung. Aber mit einem Ressourcenproblem müssten wir zu selektieren beginnen – etwa nach Prognosefaktoren.

Waren Sie von der rapiden Entwicklung der Fallzahlen in den letzten Wochen überrascht?

Markstaller: Was mich am ehesten überrascht hat, ist, dass das so synchron in ganz Europa stattfindet. Wir sind in einer noch nie dagewesenen Situation, daher halte ich im Guten wie auch im weniger Guten sehr vieles für möglich. Ich bin – vielleicht ist das die bessere Formulierung – auf Überraschungen gefasst. Und eines darf man nicht vergessen: Wir haben nun eine höhere Grundprävalenz, das heißt, dieses Virus ist in der Bevölkerung vorhanden. Das war im Frühjahr anders, da begann die Pandemie praktisch bei Null. Salopp gesagt: Wir hatten einen anderen Anlauf, bis wir in den steilen Teil der exponentiellen Kurve kamen. Jetzt geht es natürlich sehr viel schneller.

Versuchen wir eine Rekonstruktion der letzten Monate: Der Sommer war relativ ruhig mit einem bloß schwelenden Fortlauf der Pandemie. Warum?

Markstaller: Mit hoher Wahrscheinlichkeit kommen hier viele Faktoren ins Spiel. Man hält sich im Sommer eher draußen auf, die Räume sind besser durchlüftet, die Menschen sind weniger in Nahkontakt, jedenfalls in geschlossenen Räumen – das liegt zunächst alles auf der Hand. Und je weniger Fälle es gibt, umso einfacher ist es, kleinere Cluster einzudämmen. Das scheint mir ein wesentlicher Faktor zu sein: Ab dem Moment, da man dazu nicht mehr in der Lage ist, kann die Situation unkontrollierbar werden. Ein weiterer Faktor mag sein, dass sich das Virus im Sommer vor allem in der jüngeren Bevölkerung vermehrt hat.

Das könnte auch die Erklärung dafür sein, dass es im Spätsommer bzw. Frühherbst zwar zu steigenden Infektionszahlen kam – aber noch nicht zu einem Anstieg bei den Intensivpatienten. Warum waren zunächst vor allem die Jüngeren betroffen?

Markstaller: Ich kann da nur Vermutungen anstellen. Die Älteren sehen – berechtigterweise – eine höhere Gefahr für sich und gehen daher mit der Situation anders um. Ich denke, für ältere berufstätige Menschen ist ein Verzicht auch leichter, als wenn man 18 ist und Matura feiern will. Die hat man eben nur einmal im Leben. Das haben die Generationen davor auch getan. Warum die Intensivzahlen nicht hochgegangen sind? Die banale Antwort ist: Es gibt eben eine Zeitverzögerung, fünf Prozent landen nach der Inkubation im Krankenhaus und von diesen 23 Prozent auf der Intensivstation. Einfach ausgedrückt: Von 100 Infizierten wird einer intensivpflichtig.

Und jetzt sind offenbar auch die Älteren wieder stärker betroffen. Warum?

Markstaller: Möglicherweise, weil es nun zu einer stärkeren Durchmischung im häuslichen Bereich kommt.

Könnte der rapide Anstieg auch durch neue genetische Varianten des Coronavirus – wie zum Beispiel D614G – ausgelöst worden sein? Letztere soll infektiöser sein.

Markstaller: Da liegen mir noch keine Daten vor. Was ich aber relativ sicher sagen kann: Die neuen Varianten sind nicht gefährlicher, einen negativen Einfluss auf den Krankheitsverlauf sehe ich zur Zeit nicht.