Zwei Ärzte mit Maske diskutieren miteinander
AFP – ALFREDO ESTRELLA
AFP – ALFREDO ESTRELLA
Gastbeitrag

Die ethischen Dilemmata der Triage

Das Coronavirus bringt Österreichs Spitäler an ihre Grenzen. Sollten Ärzte entscheiden müssen, wer intensivmedizinisch behandelt wird und wer nicht, braucht es transparente Kriterien – etwa Genesungsaussicht und Patientenwille, so der Bioethiker Ulrich Körtner in einem Gastbeitrag. Die sogenannte Triage berge aber ethische Dilemmata.

Die Bilder aus Italien und Spanien lösten im Frühjahr Entsetzen aus: Ärzte und Pflegekräfte am Rande der Erschöpfung, die ihre Patienten und Patientinnen nur noch mit Mühe versorgen konnten. Dazu völlig überlastete Intensivstationen, in denen es an Betten für die weit steigende Zahl an Coronavirus-Patienten mangelte. Militärkonvois, die Leichen abtransportieren, für die es in den örtlichen Krematorien keinen Platz mehr gibt. Sich selbst überlassene Bewohner und unversorgte Tote in Alters- und Pflegeheimen. Österreichs Gesundheitswesen ist während der ersten Coronavirus-Welle glücklicherweise nicht einmal in die Nähe eines solchen Schreckensszenariums gekommen. Heute, mitten in der zweiten Welle, ist die Lage angespannter.

Porträtfoto Ulrich Körtner
Hans Hochstöger

Ulrich Körtner ist Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien.

Personal lässt sich nicht so schnell aufstocken

Österreich hat im Vergleich zu anderen europäischen Ländern eine relativ hohe Zahl an Intensivbetten. Auch wenn deren Anzahl in einer akuten Notlage noch erhöht und weitere Beatmungsmaschinen gekauft werden können, sind Engpässe nicht auszuschließen. Die intensivmedizinische Versorgung von Covid-Patienten, noch dazu von solchen, die beatmungspflichtig sind, erfordert nämlich nicht nur ausreichend Ärzte, sondern auch ein hochspezialisiertes Pflegepersonal. Ohne dieses Personal nutzen auch die Maschinen nichts.

Das Fachpersonal ist nur begrenzt vorhanden und lässt sich auch nicht kurzfristig aufstocken. Nach der dreijährigen Grundausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege dauert die Zusatzausbildung zum Intensivpfleger oder zur Intensivpflegerin weitere zwei Jahre – Zeit, die wir akut in der zweiten Infektionswelle nicht haben.

Impfung ist nicht „die“ Lösung

Auch wenn die Nachrichten der letzten Tage, wonach schon bald ein erster Impfstoff vorhanden sein könnte, die Hoffnung auf eine Entspannung der Lage wecken, sprechen wir hier nicht von Wochen, sondern von Monaten. Es wird auch nicht so sein, dass schlagartig für die Gesamtbevölkerung ein Impfstoff vorhanden ist, sondern dass nach ethischen und medizinischen Kriterien entschieden wird, wer vorrangig geimpft werden soll und wer nicht.

Das nennt man Priorisierung. In Deutschland hat dazu eine gemeinsame Arbeitsgruppe aus Mitgliedern der Ständigen Impfkommission, des Deutschen Ethikrates und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina eine Empfehlung vorgelegt, wie der Zugang zu einem Covid-19-Impfstoff geregelt werden soll.

Die Lage ist also tatsächlich ernst und wird von den politischen Verantwortlichen keineswegs übertrieben dargestellt. Schließlich werden Intensivbetten nicht allein für Covid-19-Patienten, sondern weiterhin auch für andere Kranke und Verletzte benötigt. Im Katastrophenfall müssen Ärzte entscheiden, wer noch intensivmedizinisch behandelt werden soll und wer nicht, weil die Überlebenschancen zu gering sind. Man nennt diese Situation Triage.

Allokation: Zuteilung knapper Mittel

Bereits am 17. März hat die Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) “Klinisch-ethische Empfehlungen für Beginn, Durchführung und Beendigung von Intensivtherapie bei COVID-19-PatientInnen“ publiziert. Schweizer und deutsche Gesellschaften folgten mit Empfehlungen, auch die österreichische Bioethikkommission gab eine Stellungnahme „zum Umgang mit knappen Ressourcen in der Gesundheitsversorgung im Kontext der Covid-19-Pandemie“ ab.

Es geht dabei immer um Priorisierung und Triage – beide sind Beispiele für die generell im Gesundheitswesen erforderliche Allokation, d. h. Zuteilung knapper Ressourcen an potenzielle Nutzer. Allokationsfragen im Gesundheitswesen stellen sich nicht nur in Verbindung mit der Coronavirus-Pandemie.

Zwei Pfleger transportieren einen Patienten in einem rollenden Bett
AFP – ALFREDO ESTRELLA

Transparenter Kriterienkatalog

Grundsätzlich erfordert Allokation nicht nur Rationalisierung, sondern auch Rationierung. Dabei ist zu beachten, dass es nicht nur Phänomene der Unterversorgung, sondern auch der Überversorgung und der Fehlversorgung gibt, die sich nicht nur auf das Gesamtsystem unter medizinökomischen Gesichtspunkten, sondern auch auf individuelle Patientenwohl nachteilig auswirken können.

Aus medizinethischer Sicht sollten Allokationsentscheidungen möglichst weit weg vom einzelnen Patienten getroffen werden. Das gilt auch für die Versorgungslage in der COVID-19-Pandemie. Zunächst gilt es, die Situation knapper Ressourcen durch geeignete Allokationsmaßnahmen zu entschärfen, etwa durch Verlegung von Patienten, die keine Intensivtherapie benötigen, auf eine Intermediate Care Unit oder auf eine Normalstation.

Die Entscheidung, wer im Extremfall noch (weiter) behandelt werden soll und wer nicht, kann unter diesen Umständen keine Einzelfallentscheidung sein, sondern muss nach einem transparenten Kriterienkatalog getroffen werden. Grundlegende Prinzipien für Priorisierungsentscheidungen sind:

  1. das Prinzip der Gerechtigkeit (Fairness)
  2. das Prinzip der Patientenautonomie – d.h. soweit bekannt, der Patientenwille
  3. die Menschenwürde
  4. die Überlebenschancen und die klinische Erfolgsaussicht.

Aussichtslose Therapien sind unethisch

Wenn beispielsweise ein Patient intensivmedizinische Behandlung ablehnt, darf er nicht gegen seinen Willen behandelt werden. Wenn die Ressourcen auf den Intensivstationen nicht mehr ausreichen, wäre es auch unethisch, einen Patienten im schlechten Gesundheitszustand, auch wenn er das dringend wünscht, intensivmedizinisch zu behandeln, wenn dafür ein Patient mit weit besseren Überlebenschancen abgewiesen werden müsste.

Es wäre auch deshalb unethisch, weil eine aussichtslose Therapie, die für den Patienten selbst mit hoher Belastung und zusätzlichem Leiden verbunden sein kann, letztlich nur einer Sterbeverlängerung gleichkäme. Der Deutsche Ethikrat verweist in diesem Zusammenhang auf den ethischen und rechtlichen Grundsatz „ultra posse nemo oligatur“ – „Über das Können hinaus wird niemand verpflichtet“. Zu einer unmöglichen Leistung besteht keine moralische Verpflichtung.

Erfolgsaussichten und Patientenwille

Zur Triage gehört aber auch, regelmäßig zu überprüfen, ob eine bereits eingeleitete intensivmedizinische Behandlung fortgesetzt werden soll oder nicht. Auch bei dieser Entscheidung dürfen allein die klinischen Erfolgsaussichten und der Patientenwille ausschlaggebend sein. Im Notfall kann das bedeuten, einen Patienten, der bereits intensivmedizinisch betreut wird, auf eine andere Station zu verlegen. Dadurch würde ein Beatmungsplatz für einen anderen Patienten frei.

Diese Form der Triage, bei der am Ende möglicherweise doch auch das Alter der Patienten in die Entscheidung einbezogen würde, ist freilich ethisch und rechtlich höchst umstritten, weil das Prinzip der Menschenwürde verbietet, ein Menschenleben gegen ein anderes aufzuwiegen. Unter Umständen müssten Ärzte in solch einem Fall auch mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen, wenngleich die Rechtsordnung auch den Tatbestand des übergesetzlichen bzw. entschuldigenden Notstand (§ 10 StGB) kennt. Aus Dilemma-Entscheidungen darf aber keine allgemeine ethische oder rechtliche Regel abgeleitet werden, die das unveräußerliche Grundrecht auf Leben untergraben würde.

Solche Dilemmata lassen sich nach Ansicht von Experten im Einzelfall vermeiden oder doch entschärfen, wenn auf vorschnelle invasive Beatmung verzichtet und stattdessen in weniger schweren Fällen Heimrespiratoren eingesetzt werden. Diese Geräte sind eigentlich für die nichtinvasive Beatmung gedacht, sie lassen sich aber unter bestimmten Bedingungen und bei entsprechender Anpassung auch für die invasive Beatmung einsetzen.

Pflegerin in Schutzbekleidung
AFP – ALFREDO ESTRELLA

Ambivalenz der Altersfrage

In den deutschen Empfehlungen steht ein auch für Österreich entscheidender Satz: „Eine Priorisierung ist aufgrund des Gleichheitsgrundsatzes nicht vertretbar nur innerhalb der Gruppe der COVID-19-Erkrankten und nicht zulässig allein aufgrund des kalendarischen Alters oder aufgrund sozialer Kriterien.“ Im Klartext: Einerseits darf es keine Altersdiskriminierung geben. Andererseits werden, wie schon gesagt wurde, auch im Katastrophenfall Intensivbetten für andere Patienten benötigt, zum Beispiel für Unfallopfer, Herzinfarkt- und Schlaganfallpatienten oder frisch Operierte nach einem schweren Eingriff.

Es geht nicht nur um Umschichtungen innerhalb der einzelnen Spitäler. Man wird Lösungen finden müssen, wie Covid-19-Patienten oder andere Intensivpatienten spitalsübergreifend, vielleicht sogar bundesländerübergreifend dorthin verlegt werden können, wo noch Betten frei sind. Es ist aber auch klarzustellen, dass bei schweren Krankheitsverläufen nicht bloß die Alternative zwischen Intensivbett oder Palliativstation und Sterbebegleitung besteht. Es braucht auch Betten auf Normalstationen. Allerdings ist dafür Sorge zu tragen, dass es auch für die palliativmedizinische Versorgung einen Notfallplan gibt.

Vor-Triage in Pflegeheimen

Die Österreichische Palliativgesellschaft hat dazu bereits einen „Palliative pandemic plan“ vorgelegt. Auch die Deutsche Palliativgeselllschaft hat Empfehlungen für die stationäre und ambulante Versorgung von Covid-19-Patienten veröffentlicht. Empfehlungen von Fachgesellschaften und Ethikräten zur Triage bleiben allerdings wirkungslos, wenn sie nicht in den Krankenanstalten für verbindlich erklärt werden. Hier sind nicht nur die einzelnen Spitäler gefordert, sondern auch die staatlichen, kommunalen und privaten Krankenhausträger.

Ein besonderes Augenmerk ist auf die Situation und Entwicklung in stationären Pflegeeinrichtungen zu richten. Es besteht die Gefahr, dass an COVID-19 erkrankte Bewohner zu rasch in Krankenhäuser verlegt werden. Hier bedarf es einer Vor-Triage, bei der im Sinne des Advanced Care Planning überprüft wird, ob ein Patient nicht in der Pflegeeinrichtung verbleiben und gegebenenfalls auch dort mit palliativer Begleitung versterben kann.

Solche Entscheidungen bedürfen aber einer sorgfältigen Abwägung und Rechtfertigung, weil andernfalls für Pflegeheimbewohner das Alter zum Ausschlusskriterium würde. Das aber verstieße gegen das geltend gemachte Verbot der Altersdiskriminierung. Auch in diesem Fall ist multiprofessionelle Klinische Ethikberatung wünschenswert, die nicht erst bei Einzelentscheidungen unterstützend wirken kann, sondern schon bei der Erstellung einer hausinternen Leitlinie.

Solidarität und Eigeninteresse

Hoffentlich wird nun auch dem Letzten klar, dass es längst nicht mehr nur darum geht, dass die Jungen die Alten oder Risikogruppen mit Vorerkrankungen schützen. Nicht nur kann auch bei jungen Menschen eine Coronavirus-Infektion einen schweren oder sogar tödlichen Verlauf nehmen. Jüngere Menschen könnten auch zu Opfern der Pandemie werden, wenn für sie nach einem schweren Unfall oder Herzinfarkt kein Intensivbett mehr frei ist. Darum handelt jeder, der die im zweiten Lockdown verfügten Maßnahmen befolgt, nicht nur aus Solidarität und Humanität, sondern auch aus wohlverstandenem Eigeninteresse.