Volksschüler sitzt am Tisch mit Federpenal und Maske
APA/HARALD SCHNEIDER
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„Schulschließungen wären das allerletzte Mittel“

Zu Coronavirus-Infektionen an Schulen gibt es mittlerweile jede Menge Daten – dennoch ist immer noch unklar, ob Kinder genauso ansteckend sind wie Erwachsene. Michael Wagner, der Leiter des österreichischen Schulmonitorings, hält Schließungen nur für die letzte Option: „Es wäre viel wichtiger darüber nachzudenken, wie man Schulen schützen kann.“

science.ORF.at: Herr Wagner, in Österreich wird gerade diskutiert, ob man Schulen weiterhin offenhalten oder doch schließen sollte: Was ist Ihre Position?

Michael Wagner: Man kann dieses Thema aus so vielen verschiedenen Perspektiven betrachten, ich kann nur die mikrobiologische fundiert vertreten. Die Frage lautet: Verhalten sich jüngere Kinder im Vergleich zu Jugendlichen grundsätzlich anders, was Infektionen und Ansteckung angeht? Meiner Ansicht nach kann man das aus den Daten in der Literatur nicht ableiten. Klar ist natürlich auch: Die Folgen einer Schulschließung gehen weit über das Mikrobiologische hinaus. Man denke etwa an die Kinderbetreuung. Wir müssen zunächst einmal eine transparente Zusammenfassung der Daten für Österreich schaffen – und darauf basierend kann dann die Politik Entscheidungen treffen. Das ist auch der Grund, warum wir im September mit einem Schulmonitoring und Gurgeltests an bis zu 15.000 Schülern und Schülerinnen und ihren LehrerInnen begonnen haben. Wir wollen Datensätze generieren, die es so kaum gibt. Vielleicht sind sie sogar einzigartig.

Mikrobiologe MIchael Wagner von der Uni Wien
Universität Wien

Zur Person

Michael Wagner ist der Direktor des Zentrums für Mikrobiologie und Umweltwissenschaften an der Uni Wien und Mitentwickler jener Gurgeltests, die jetzt an Wiener Schulen eingesetzt werden. Die Ergebnisse seiner aktuellen Schul-Monitoring-Studie werden morgen präsentiert.

Ich formuliere die Frage anders: Wenn Sie Bundeskanzler wären, wie würden Sie entscheiden?

Wagner: Ich möchte mich nicht um eine Antwort drücken, aber ich bin aus gutem Grund nicht Politiker, sondern Forscher. Ich kann nur die Fakten benennen, die lauten: Schüler haben einen Einfluss auf das Infektionsgeschehen und Schulschließungen wirken sich auf die Reproduktionszahl des Coronavirus aus. Schulschließungen wären also ein Instrument, um die Welle zu brechen – man erzeugt damit allerdings unglaublich viele negative Folgen. Mein Wunsch wäre, Schließungen nur als allerletztes Mittel einzusetzen. Dann, wenn alles andere nicht mehr greift. Wir müssten uns als Gesellschaft darauf einigen, dass Schulen Priorität genießen. Das gilt übrigens nicht nur für den Lockdown, sondern vor allem auch für die Zeit danach.

Werfen wir einen Blick auf die Fachliteratur: Inwiefern unterscheiden sich Kinder und Jugendliche von Erwachsenen, was das Infektionsgeschehen angeht?

Wagner: Konkrete Zahlen für Österreich bekommen Sie aus unserer Gurgelstudie morgen, allerdings nur für die unter 14-Jährigen. Für alles andere kann ich Ihnen nur eine Zusammenfassung anbieten, weil sich die Studien zum Teil widersprechen und zum Teil unter komplett unterschiedlichen Randbedingungen gemacht wurden. Viel dieser Untersuchungen wurden während oder kurz nach dem ersten Lockdown durchgeführt. Was dazu geführt hat, dass die Prävalenz sehr niedrig war. Wir haben selbst im Sommer eine Pilotstudie an elf Wiener Schulen durchgeführt und bei 5.000 Gurgelproben nur eine positive Lehrerin und eine positive Mitarbeiterin gefunden – aber keine infizierten Schüler. Ohne zu viel zu verraten: Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Das heißt: Viele Studien – auch Metastudien – beziehen sich auf Zeiträume, die für die jetzige Situation nicht mehr relevant sind. Darum ist die Interpretation der Daten sehr schwierig. In Österreich werden Kinder auch nicht gleich häufig getestet wie Erwachsene. Dass man dann weniger Infektionen findet, ist eigentlich klar. Das Einzige, wo wirklich Konsens herrscht, ist: Kinder erkranken in der Regel nicht schwer an Covid-19.

Unklare Datenlage

An Daten und Studien zum Infektionsgeschehen besteht kein Mangel, die Ergebnisse bleiben widersprüchlich: Wenige Ansteckungen wurden etwa in schwedischen Schulen beobachtet, in Israel dürften Kinder indes zu den Treibern der Pandemie gehören.

Ähnlich uneindeutig sind auch die Ergebnisse von Meta-Studien – auch deshalb, weil es einen großen Unterschied macht, in welcher Jahreszeit getestet wird. Eine Meta-Analyse im Fachblatt „JAMA Pediatrics“ stellt ein deutlich niedrigeres Infektionsrisiko für Kinder und Jugendliche fest, eine Modellierungsstudie kommt wiederum zu dem Schluss: Die Öffnung von Schulen nach dem ersten Lockdown hat die Reproduktion des Erregers angekurbelt.

Im Fachblatt „JAMA Pediatrics“ ist im September eine Meta-Analyse erschienen, laut der Kinder und Jugendliche etwa das halbe Infektionsrisiko wie Erwachsene haben. Ist das ein Orientierungswert?

Wagner: Die Fachliteratur liefert meiner Ansicht nach keine konsistenten Antworten. In „Science“ ist etwa eine Contact-Tracing-Studie aus Indien erschienen, der zufolge Kinder eine große Rolle bei der Übertragung des Erregers spielen. Es kommt immer darauf an: In welcher Jahreszeit hat eine Untersuchung stattgefunden? Und ist das während oder kurz nach einem Lockdown passiert? Davon abgesehen wurde mittlerweile nachgewiesen, dass Kinder eine andere Antikörperreaktion haben als Erwachsene. Das führt – je nach angewendetem Antikörpertest – zu einer Unterschätzung der Infektionen bei Kindern.

Sind Kinder weniger ansteckend als Erwachsene?

Wagner: Das geben die Daten nicht her. Kinder infizieren sich und sie können andere anstecken, das wurde auch in Experimenten nachgewiesen. Ob sie weniger ansteckend sind oder vielleicht sogar mindestens so ansteckend, ist unklar. Es ließe sich auch beides argumentieren. Kinder haben viele Sozialkontakte und eine hohe Virenlast im Rachen. In einer amerikanischen Haushaltstudie wurde gezeigt, dass Kinder unter 12 Jahren mindestens so ansteckend wie Erwachsene sind. Auf der anderen Seite haben sie weniger von diesen ACE-2-Rezeptoren in der Nase, an die die Viren andocken und sie sind öfter asymptomatisch. Daher husten sie auch weniger und stoßen weniger Aerosloe aus. Jeder, der behauptet, all das in eine Zahl fassen zu können, ist meiner Ansicht nach – sagen wir es positiv: extremst optimistisch. Ich finde es nicht seriös, hier eine Zahl zu nennen.

Am Wochenende haben vier Wittgenstein-Preisträger aus den Fächern Mathematik, Physik und Informatik in vehementem Tonfall einen „harten“ Lockdown inklusive Schulschließungen gefordert. Wurden Sie gefragt, ob Sie unterschreiben wollen?

Wagner: Da sage ich jetzt nichts dazu. Das ist nicht mein Aufruf und ich finde ihn auch zu schwarz-weiß. Ich verstehe, woher die Sorge herkommt: Wir haben in Österreich bei der zweiten Welle – ganz im Gegensatz zur ersten – sehr spät reagiert. Es besteht die Gefahr, dass das Gesundheitssystem an seine Belastungsgrenze kommt. Aber wie gesagt, ich hätte das differenzierter dargestellt: Schulschließungen haben so massive Konsequenzen, da muss man sich schon die Frage stellen, ob es nicht die Möglichkeit eines Zwischenweges gibt. Statt zu sagen „Schulen zu“ wäre es viel wichtiger nachzudenken, wie kann man Schulen perspektivisch schützen? Ich glaube, man kann noch an vielen anderen Stellen nachjustieren, bevor man sich die Schulen vornimmt.

Schulen wären für Sie der letzte Ort, wo man an Schließungen denken sollte?

Wagner: Ja, aber nicht, weil sie so unbedeutend sind für die Pandemie. Sondern deshalb, weil sie für die Kinder und die gesamte Gesellschaft so wichtig sind. Und auch für die Wirtschaft.

Wie ließen sich Schulen besser schützen?

Wagner: Man könnte auch in der Volksschule eine Maskenpflicht einführen, man könnte Lüftungsgeräte in die Klassen stellen, man müsste die Hortthematik angehen: Es macht wenig Sinn in der Klasse epidemiologische Einheiten zu schaffen, und im Hort treffen sich dann alle wieder. Denkbar wären auch gestaffelte Anfangszeiten – wenn man für diese Themen Lösungen findet und die Gesellschaft zudem auf vieles verzichtet, dann können Schulen hoffentlich – zumindest nach diesem Lockdown – den Winter über offen bleiben.