Volksschüler sitzt am Tisch mit Federpenal und Maske
APA/HARALD SCHNEIDER
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Forscher warnen vor „Pandemie-Gap“

In normalen Schuljahren gibt es den „Summer Gap“: Bildungslücken bei benachteiligten Schülern und Schülerinnen. Nun komme noch ein „Pandemie-Gap“ dazu, warnen Wiener Forscher. Damit sie nicht weiter abgehängt werden, müsse man mehr Rücksicht auf die Lernsituation im Fernunterricht nehmen.

Im Rahmen des EU-Projekts „Migrant Children an Communities in a Transforming Europe“ (MiCREATE) wurde in zehn Ländern (Österreich, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Italien, Polen, Slowenien, Spanien, Türkei, Vereinigtes Königreich) in den Jahren 2019 und 2020 die Situation von Kindern mit Migrationshintergrund in Schulen, Freizeiteinrichtungen und Aufnahmezentren für minderjährige Flüchtlinge untersucht. In Österreich hat dafür ein Forschungsteam rund um Birgit Sauer vom Institut für Politikwissenschaften der Uni Wien Feldforschung an sechs Wiener Schulen durchgeführt. Aktualitätsbedingt wurde der Forschungsschwerpunkt um das Thema Corona erweitert.

In einem Policy Brief haben die Wiener Wissenschafter nun Empfehlungen vorgelegt, wie man Schüler mit Migrationshintergrund während der Coronavirus-Krise besser unterstützen kann. Bei Bedarf sollen den benachteiligten Schülern etwa nicht nur Laptops, Tablets und Internetzugang zur Verfügung gestellt werden. Es brauche auch Angebote wie einen ruhigen Platz zum Lernen, Unterstützung durch andere Schüler, regelmäßige Treffen oder Sprachförderangebote. Die Wissenschaftler plädieren außerdem dafür, Eltern stärker einzubinden.

Emotionale Unterstützung

Zusätzlich braucht es aus Sicht der Forscher mehr Betreuungsstrukturen für benachteiligte Schüler, die teilweise mangels Alternativen während des Lockdowns allein daheim gewesen seien. Hier fordern sie mehr finanzielle Unterstützung für besonders wirtschaftlich benachteiligte Familien, außerdem sollten Lehrer und Berater diese Schüler bei Bedarf etwa durch Telefonate emotional unterstützen.

An Lehrer und Schulen appellieren die Forscher, sich im Online-Unterricht nicht allein auf Unterrichtsinhalte zu konzentrieren und den Kindern dadurch zu viele Aufgaben zu geben. „Der emotionalen Not und den psychischen Bedürfnissen der Kinder wurde in dieser Zeit zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt“, verweisen sie auf Erfahrungen des ersten Lockdown im Frühjahr.

Mit der Wiedereröffnung der Schulen braucht es laut Empfehlungen spezielle Programme für Kinder mit Migrationshintergrund, um Lernstoff nachzuholen, sowie Sozialarbeiter und Mentoren, die sich auf den emotionalen Zustand der Kinder konzentrieren. Während der Ferien sollten außerdem Kinderbetreuungs- und Unterstützungseinrichtungen durchgehend geöffnet sein und so der „Ferienlücken-Effekt“ abgefedert werden.

Langfristige Bemühungen

Zusätzlich haben die Wissenschaftler noch allgemeine Empfehlungen für politische Entscheidungsträger zur Förderung von benachteiligten Kindern mit Migrationshintergrund erarbeitet: Schulische Strukturen müssten langfristig so aufgebaut werden, dass sozioökonomisch schlechter gestellte Kinder und Jugendliche nicht auch noch in der Bildung bestraft würden, wird Projektmitarbeiterin Alev Cakir am Medienportal der Uni Wien zitiert.

Schon in den ersten Interviews hätten Schüler mit Migrationshintergrund den Forschern erzählt, dass sie in ihrer Eigenwahrnehmung immer noch die „Anderen“ seien. „Das ist erschreckend und hat uns auch überrascht.“ Für gleichwertige Bildungschancen brauche es langfristige Maßnahmen und mehr Personal in diesem Bereich. Hier gehe es auch um eine bedarfsorientierte Verteilung von Mitteln. „Manche Schulen benötigen mehr unterstützende Angebote als andere“, so Projektmitarbeiterin Stella Wolter.